© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/23 / 17. November 2023

Ein hartes Brot
Kino: „Die Tribute von Panem“ gehen spektakulär weiter
Dietmar Mehrens

Als vor elf Jahren der erste „Tribute von Panem“-Film nach der gleichnamigen Buchreihe von Suzanne Collins in die Kinos kam, war das der Auftakt zu einem Millionengeschäft. Etwa 100 Millionen Bücher der im Original unter dem Titel „The Hunger Games“ bekannt gewordenen Reihe wurden verkauft. Die Romanverfilmungen (2012–2015) lockten weltweit Millionen in die Lichtspielhäuser. Grund genug, die ergiebige Milchkuh weiter mit einer Fortsetzung zu melken, die nun die Vorgeschichte erzählt. In Cineasten-Kreisen heißt das „Prequel“.

Um ein solches handelt es sich bei „Die Tribute von Panem – Das Lied von Vogel und Schlange“. In der dystopischen Welt von Panem, die literarische Vorbilder wie Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ und George Orwells „1984“ erkennen läßt, herrscht eine Aristokraten-Kaste, die nach ihrem Machtzentrum „Kapitol“ genannt wird, über proletarische oder als solche betrachtete „Distrikte“. Zur Volksbelustigung im römischen „Brot und Spiele“-Verfahren – das lateinische Wort „panem“ (= „Brot“) verweist darauf – dienen die sogenannten Hungerspiele, die den Romanen ihren Originaltitel gaben. Sie werden zur Abschreckung und zum Gedächtnis an einen gescheiterten Aufstand der Distrikte durchgeführt und sind ein hartes Brot für alle, die als Tribute, also Opfer, aus den zwölf Bezirken ausgewählt werden. Denn bei den Spielen werden sie als Einzelkämpfer in Gladiatoren-Manier aufeinander losgelassen. Wer am Ende übrigbleibt, ist der glückliche Sieger. 

Die „Panem“-Erfinderin orientierte sich am antiken Rom

Im Zentrum des Geschehens steht der junge Coriolanus Snow (Tom Blyth), lange bevor er der garstige Präsident von Panem wurde, als den Kinozuschauer ihn bereits kennen. Coriolanus ist die letzte Hoffnung der einst stolzen Familie Snow, die in Ungnade gefallen ist. Der Blondschopf gehört zu einer Reihe von Kandidaten, die sich ein Stipendium erhoffen, das gesellschaftlichen Aufstieg verheißt, die sogenannte Plinth-Prämie. Die gewinnt, wer als Mentor einem von 24 Tributen aus den zwölf Distrikten in der aktuellen Auflage der Hungerspiele zum Sieg verhilft.

Coriolanus wird die bildschöne, wenn auch etwas rustikal auftretende Lucy Gray (Rachel Zegler) zugelost, ein Mädchen aus dem prekären Distrikt 12, das durch mutiges Auftreten und öffentliche Gesangseinlagen auf sich aufmerksam gemacht hat. Und damit sind wir beim Clou der Geschichte, und der ist gar nicht mal schlecht ausgedacht: „The Hanging Tree“, eines von einem halben Dutzend Liedern, die Hauptdarstellerin Rachel Zegler im Film singt, ist den Zuschauern aus „Die Tribute von Panem – Mockingjay Teil 1“ als Widerstandshymne bekannt. Jetzt erfahren sie also, unter welchen dramatischen Umständen das Lied entstand. Es ist Teil einer Liebesgeschichte, die sich zwischen Lucy Gray und Coriolanus entwickelt, dann aber unter die Räder des Widerstands gerät, der in den Distrikten gärt.

„Panem“-Erfinderin Suzanne Collins, die als ausführende Produzentin an „The Ballad of Songbirds and Snakes“ beteiligt war, hat sich für ihre Romanreihe von Anfang an am antiken Rom orientiert. Anleihen bei Shakespeares „Coriolanus“, der Tragödie eines an sich selbst scheiternden Helden, verleihen dem Film einen bildungsbürgerlichen Anspruch. Beklemmend realistisch setzt Regisseur Francis Lawrence ferner Architektur und Ikonographie des Totalitarismus ins Bild.

In drei Kapiteln, die zeitlich Jahre vor dem ersten „Panem“-Film spielen, wird dem Zuschauer die Geschichte von Lucy und Coriolanus präsentiert: Das Kapitel „Der Mentor“ ist eine sozio-kulturelle Exposition, die die Welt von „Panem“ erläutert und in das vielfältige Figurenkabinett einführt. „Das Stipendium“ ist im wesentlichen eine Neuauflage des ersten „Tribute von Panem“-Films, reduziert auf die Kampfarena das Kapitols. Kapitel drei, „Der Friedenswächter“, hinterläßt den stärksten Eindruck. Es schildert in einer von den vorangegangenen beiden Teilen stark abweichenden Optik, wie Coriolanus sich weiterentwickelt, nachdem die Entscheidung in der Arena gefallen ist.

Der große Hingucker des Films ist freilich Rachel Zegler. Die charismatische Darstellerin wurde durch Steven Spielbergs Neuaufguß des Filmklassikers „West Side Story“ bekannt und schon damals von der JF als „Glücksgriff“ gepriesen (JF 50/21). Jetzt sorgt sie dafür, daß auch dem düster-dystopischen Drama der Charme eines Musicals anhaftet, was man in diesem Genre als durchaus gewagt bezeichnen kann, dem Film aber allemal besser bekommt als noch mehr seelenlose Spielereien aus der Computer-Trickkiste.


Kinostart ist am 16. November 2023