Am Abend des 21. November 2013 versammelten sich rund 2.000 Menschen auf dem Majdan Nesaleschnosti (Platz der Unabhängigkeit) im Herzen der ukrainischen Hauptstadt Kiew, um friedlich gegen die Aussetzung des im Jahr zuvor ausgehandelten Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine zu demonstrieren, woraus in der Folgezeit eine Protestbewegung mit Massencharakter erwuchs.
Zuvor war der Maidan bereits Ausgangspunkt der „Revolution auf Granit“ von 1990 gegen die weitere Anbindung der Ukraine an die noch existierende Sowjetunion sowie der „Orangenen Revolution“ in Reaktion auf die irregulär verlaufene Präsidentschaftswahl von 2004 gewesen.
Hierauf basiert das Narrativ von einer nunmehrigen dritten Revolution in der Ukraine, genannt „Euromaidan“, beziehungsweise „Revolution der Würde“, deren Hauptziel angeblich darin bestand, die Unterzeichnung des Abkommens mit der Europäischen Union und vorzeitige Präsidentschaftswahlen zu erzwingen – letzteres, weil der amtierende, ebenso rußlandfreundliche wie EU-skeptische Präsident Wiktor Janukowitsch als Hauptverantwortlicher für die Aussetzung des Assoziierungsabkommens galt. Tatsächlich jedoch resultierten die Demonstrationen und späteren Krawalle auf dem Maidan aus sehr viel mehr Faktoren.
Beispielsweise sorgte die weit verbreitete Korruption in den Staatsorganen und der Wirtschaft für erhebliche Unzufriedenheit oder gar Wut – und zwar quer durch alle Bevölkerungsgruppen und über das gesamte politische Spektrum hinweg. Dazu kamen Vorwürfe gegen Janukowitsch wegen persönlicher Bereicherung und Wahlbetrug. Außerdem litten die Ukrainer unter einer enorm gestiegenen Arbeitslosigkeit und hohen Preisen. Diese entsprachen in etwa denen in Deutschland, während das Durchschnittseinkommen in der Ukraine 90 Prozent niedriger lag.
Daher ergab eine Straßenumfrage des Kiewer Gorschenin-Instituts unter Demonstranten auf dem Maidan dann auch, daß nur reichlich jeder vierte wegen der Aussetzung des Abkommens mit der EU auf dem Platz verharrte. Dies korrespondiert mit Beobachtungen der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen, denen zufolge bis Anfang 2014 durchschnittlich nur 30 bis 40 Prozent der Ukrainer eine EU-Integration ihres Landes wollten. Wobei der Anteil der EU-Anhänger im äußersten Westen des Landes mit 84 Prozent deutlich höher lag als im Osten, wo lediglich 13 Prozent für eine Annäherung an die Europäische Union votierten.
Vor allem die jüngeren Ukrainer waren EU-Befürworter
Die also trotz des angeblich aus Enthusiasmus für Europa erwachsenen „Euromaidan“ weit verbreitete Skepsis der Ukrainer, was die Hinwendung zur EU betraf, war durchaus nachvollziehbar. Im Lauf des Jahres 2013 hatte Moskau den Druck auf Kiew erhöht, um die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zu verhindern und die Ukraine weiterhin in die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft einzubinden, welche von Rußland dominiert wurde. In diesem Zusammenhang operierte Putin mit Zuckerbrot und Peitsche. Zum einen verfügte er Importsperren zu Lasten der Ukraine und drohte damit, das Nachbarland in die Zahlungsunfähigkeit zu lavieren. Zum anderen versprach er Kiew einen Kredit über 15 Milliarden US-Dollar und die zeitweise Reduzierung des Gaspreises von 400 auf 270 Dollar pro tausend Kubikmeter.
Parallel hierzu ließ die EU kaum eine Gelegenheit aus, sich gegenüber der Ukraine als wenig attraktiver Partner zu präsentieren. So fehlte der EU-Spitze jegliche Sensibilität für die wirtschaftlichen Nöte des osteuropäischen Landes und dessen Abhängigkeit von Rußland, welche Janukowitsch und die Regierung unter Ministerpräsident Mykola Asarow bewogen, nicht auf ein einziges Pferd zu setzen, sondern sich den „Luxus einer multivektoralen Politik“ zu leisten. Dazu kamen dann noch die Aufrufe an die Ukrainer aus Brüssel, den Gürtel in den nächsten zehn Jahren enger zu schnallen. Wobei der Internationale Währungsfonds (IWF) zusätzlich Öl ins Feuer goß, indem er die Erhöhung des Gaspreises auf dem Binnenmarkt um 40 Prozent und starke Haushaltskürzungen forderte, die von Kiew als komplett „inakzeptabel“ bezeichnet wurden.
Es ging auf dem Maidan vor zehn Jahren also keineswegs nur um den Wunsch der Demonstranten nach einer Assoziation ihres Landes mit der EU. Daraus wiederum resultierte auch die auffallende Inhomogenität der Protestierenden in Kiew. EU-Befürworter fanden sich eher unter den Jüngeren beziehungsweise Studenten, die auf eine bessere sozioökonomische Zukunft hofften.
Der übergroße Rest ging aber wegen der allgemeinen Mißstände auf die Straße. Und dann waren da noch die Rechtsextremisten, Ultranationalisten und religiösen Eiferer, wie die Angehörigen der Organisation Bratswo von Dmytro Kortschynskyj, welche sich selbst als „Christliche Hisbollah“ bezeichnet. Deren ideologischer Hintergrund und antirussischer Furor machte es dem Kreml leicht, die ukrainische Opposition als „faschistische Bewegung“ hinzustellen.
In Reaktion auf die Proteste, an denen einerseits ständig mehr Menschen teilnahmen und die andererseits in Reaktion auf die versuchte Niederschlagung durch uniformierte oder zivil gekleidete Sicherheitskräfte immer radikaler und gewalttätiger wurden, was letztlich zu über einhundert Toten führte, stürzte das ukrainische Parlament Präsident Janukowitsch am 22. Februar 2014 mit 328 zu 122 Stimmen. Dem vorausgegangen war der Rücktritt der Regierung Asarow am 28. Januar.
War die Absetzung Janukowitschs ein Staatsstreich?
Dabei ist es im Fall der Absetzung Janukowitschs gerechtfertigt, von einem Staatsstreich zu sprechen, denn gemäß Artikel 111 der ukrainischen Verfassung wäre eine Amtsenthebung nur „wegen des Begehens von Hochverrat oder eines anderen Verbrechens“ möglich gewesen – allerdings hätte dann zunächst eine Untersuchungskommission gebildet und das Verfassungsgericht eingeschaltet werden müssen. Ungeachtet des somit begangenen Verfassungsbruchs erklärte die EU-Kommission am 24. Februar 2014, die EU erkenne die Absetzung von Janukowitsch und die nachfolgende Etablierung einer Übergangsregierung an. Darüber hinaus wurde die grundsätzliche Bereitschaft bekundet, das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen.
Hierauf beschränkte sich das Agieren Brüssels jedoch nicht. Bevor die Ereignisse auf dem Maidan eskalierten und die Opposition beispielsweise das Kiewer Rathaus und weitere Gebäude im Stadtzentrum stürmte, wonach es zu Schußwechseln kam, besuchte die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Erste Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Catherine Ashton, die Demonstranten auf dem Platz und sprach auch mit deren Führern. Dabei wurde sie von Victoria Nuland begleitet, welche seinerzeit als Assistant Secretary of State im US-Außenministerium fungierte. Der genaue Inhalt der Unterredungen ist bis heute unbekannt, was gleichermaßen für die Hintermänner der Scharfschützen gilt, deren Einsatz zwischen dem 18. und 20. Februar 2014 zu einer Vielzahl von Todesopfern unter Demonstranten wie auch Sicherheitskräften führte.
Nach Ansicht der seit dem Umsturz von 2014 amtierenden Regierungen in Kiew agierten die Scharfschützen im Auftrage Janukowitschs und gehörten der Spezialeinheit des Innenministeriums Berkut an, die Gewehre des Schweizer Herstellers Brügger & Thomet nutzte. Darüber hinaus kursieren Berichte, es seien auch Angehörige des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB oder angeheuerte Profikiller im Einsatz gewesen.
Ganz anders lautet dahingegen die Version von Kritikern der ukrainischen Opposition. Diesen zufolge hätten Maidan-Aktivisten von den Dächern der von ihnen besetzten Gebäude gezielt auf Sicherheitskräfte und Demonstranten geschossen, um für maximales Chaos zu sorgen. Außerdem wird auch über den Einsatz von georgischen Scharfschützen unter US-Führung gemunkelt.
Auf jeden Fall zeitigten der Sturz und die nachfolgende Flucht von Janukowitsch nach Rußland gravierende Folgen. Am 3. März 2014 präsentierte der Kreml dem UN-Sicherheitsrat einen Brief des unter verfassungsrechtlich unzulässigen Umständen gestürzten Präsidenten der Ukraine an Wladimir Putin, wieder für „Gesetz und Ordnung“ in der Ukraine zu sorgen. Auf dieses Schreiben hin genehmigte der russische Föderationsrat einen Truppeneinsatz in dem Nachbarland, was zum Beginn des Russisch-Ukrainischen Krieges im Donbass führte. Außerdem intervenierte Rußland auf der bis dahin zur Ukraine gehörenden Krim und besetzte die Halbinsel.
Assoziierungsdrama
21. November 2004
Der als rußlandfreundlich geltende Wiktor Janukowitsch wird zum Sieger der Parlamentswahl gekürt. Im Anschluß gibt es Massenproteste wegen Wahlfälschungen (Orangene Revolution)
26. Dezember 2004
Die Stichwahl muß wiederholt werden. Nun siegt der als westlich orientiert geltende Wiktor Juschtschenko
5. März 2007
Beginn der Gespräche über ein „erweitertes Abkommen“ zwischen der EU und der Ukraine
30. September 2007
Bei der Parlamentswahl erhalten die Parteien der „Orangenen Revolution“ („Block Julia Timoschenko“ und Juschtschenkos „Unsere Ukraine“) eine knappe Mehrheit
21. Juli 2008
Die EU-Außenminister verweigern der Ukraine die EU-Beitrittsperspektive und bieten ihr stattdessen ein Asso-ziierungsabkommen an
5. Oktober 2009
In Kiew beginnt die letzte Gesprächsrunde zu Fragen des Abkommens
7. Februar 2010
Bei der Präsidentschaftswahl schlägt Janukowitsch mit 49 Prozent Julia
Timoschenko (46 Prozent)
7. April 2011
Janukowitsch betont die Dringlichkeit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU
19. Dezember 2011
Auf dem EU-Ukraine-Gipfel in Kiew erklären beide Seiten die Gespräche als erfolgreich abgeschlossen. Das Abkommen wird nicht unterschrieben
2. Mai 2012
Außenminister Guido Westerwelle erklärt, daß das Abkommen nicht unterschrieben werde, solange es keine Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine gebe
21. November 2013
Präsident Janukowitsch setzt das
Assoziierungsabkommen aus. Beginn der Massenproteste (Euromaidan)
24. Februar 2014
Janukowitsch flüchtet nach Moskau
27. Februar 2014
Russische Annexion der Krim
März 2014
Beginn der Kämpfe in der Ostukraine
15. Dezember 2014
Erste Tagung des Assoziationsrats
EU-Ukraine im Rahmen des neuen
Abkommens
1. September 2017
Der Assoziierungsvertrag tritt in Kraft