© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/23 / 17. November 2023

Letzte Hoffnung Brüssel
Ukraine: Allein Präsident Selenskyj glaubt noch immer an einen Sieg über Rußland
Paul Leonhard

Kiew erwartet ein „historisches“ Signal aus Brüssel. Gemeint ist der Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen. Die Zustimmung der Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten erhofft sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf dem EU-Gipfel am 14. und 15. Dezember. Eine EU-Mitgliedschaft bedeute für sein Land „wirtschaftliche Sicherheit und soziale Stabilität“, sagt der Staatschef und verschweigt dabei, daß im Fall eines Beitritts auch die EU-Beistandsklausel gilt, das heißt militärische Unterstützung im Fall eines Angriffs.

Aktuell sieht es schlecht aus für die Ukraine – politisch, wirtschaftlich und militärisch. Die vom Westen gefeierte Frühlingsoffensive hat sich als Rohrkrepierer erwiesen und ist unter enormen Verlusten im Schlamm steckengeblieben.

Wirtschaftlich hängt die Ukraine am Tropf der Europäischen Union, die zusätzlich zu ihren und den US-Waffenlieferungen (100 Milliarden US-Dollar) monatlich 1,5 Milliarden Euro nach Kiew pumpt, um den Regierungsapparat am Laufen zu halten. Selenskyj selbst „redet sich die Dinge schön“, so der österreichische Militäranalyst Oberst Markus Reisner.

Selbst hohe ukrainische Militärs warnen vor Fehleinschätzungen 

Selbst Vertraute aus Selenskyjs Umfeld werfen diesem eine Bunkermentalität vor. Der Glaube des Präsidenten an einen ukrainischen Endsieg über Rußland habe sich derart verhärtet, er sei unbeweglich, fast schon messianisch, schreibt Simon Shuster in einem Beitrag im Time-Magazin, der internationales Aufsehen erregt hat.

Auch seine Moral scheint gebrochen. Selenskyj wagt es nicht, die Ukrainer abstimmen zu lassen. Nach der Absage der Parlamentswahlen im Herbst weigert er sich nun auch, die laut Verfassung im Frühjahr fälligen Präsidentschaftswahlen anzusetzen. Es sei nicht die Zeit für Wahlen, sondern „die Zeit der Verteidigung, die Zeit der Schlacht, die das Schicksal des Staates und des Volkes bestimmt“.

Und ein vorübergehender Waffenstillstand? Würde „diese Wunde für künftige Generationen“ offenlassen, zitiert das Time-Magazin Selenskyj: „Vielleicht beruhigt es einige Menschen innerhalb unseres Landes und außerhalb, zumindest diejenigen, die die Sache um jeden Preis abschließen wollen. Aber für mich ist das ein Problem, weil uns diese explosive Kraft bleibt. Wir verzögern nur die Detonation.“

Andererseits kaufen sich angesichts einer geschätzten Zahl von zwischen 400.000 und 460.000 getöteten oder verkrüppelten ukrainischen Soldaten Wehrpflichtige vom Kriegsdienst frei, desertieren von der Front oder flüchten außer Landes. Ende September hielten sich knapp 4,2 Millionen Ukrainer mit zeitweiligem Schutzstatus in der EU auf, 30.000 mehr als im Vormonat. Die meisten nahm Deutschland mit knapp 1,2 Millionen auf. In Tschechien kommen bereits 33,1 Ukrainer auf 1.000 Tschechen. Wie viele Männer im wehrpflichtigen Alter sich in der EU aufhalten, ist unklar. Ihre Zahl dürfte aber hoch sein, sonst hätte Selenskyj die europäischen Staaten nicht aufgefordert, diese Personen in die Ukraine abzuschieben.

An einen Sieg glauben nicht einmal mehr höchste Militärs. Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj spricht von einer Pattsituation an der Front, bedingt durch den „technologischen Fortschritt“ der Russen, die nicht nur das Gefecht der verbundenen Waffen erlernt haben, sondern auch über die Luftüberlegenheit über dem Kampfgebiet verfügen und deren Aufklärung es ermöglicht, zeitnah Schläge aus der Luft durchzuführen.

Saluschnyj prophezeit einen jahrelangen Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg ohne eine Aussicht auf kriegsentscheidende Durchbrüche. Die einzige Chance sieht er in der Lieferung moderner westlicher Angriffswaffen mit großer Reichweite wie Storm Shadow, Taurus, Atacms-Langstreckenraketen, die der Ukraine Militärschläge tief im russischen Hinterland ermöglichen würden. Die Crux dabei ist, daß diese Systeme sowohl bemannte als auch unbemannte Aufklärungsplattformen der Nato benötigten. Für Rußlands Präsident Wladimir Putin bisher eine „rote Linie“, deren Überschreiten „die bewaffnete Sonderoperation“ zu einem europäischen Krieg mit der Nato als direkter Konfliktpartei eskalieren lassen könnte.

Selenskyj sieht die Gefahr durchaus: „Ich habe lange mit dieser Angst gelebt, ein dritter Weltkrieg könnte in der Ukraine beginnen, in Israel weitergehen und von dort nach Asien übergreifen und dann woanders ausbrechen“, sagte er dem Time-Magazin. Seine Botschaft an Washington sei immer gewesen, die USA müßten den Krieg in der Ukraine stoppen, „bevor er sich ausbreitet und bevor es zu spät ist“.

Die Signale aus den USA sind widersprüchlich. Einerseits betont US-Außenminister Antony Blinken in der ABC-Sendung „This Week“, daß die USA nicht einschreiten würden, wenn die Ukraine von den USA gelieferte Langstreckenraketen tief ins russische Hinterland feuert, andererseits Selenskyj geraten, realistisch mit Gebietsverlusten umzugehen und pragmatisch den Dialog mit Moskau zu suchen.

Den Weg dazu habe sich Selenskyj aber per eigenem Dekret verbaut. Ein absolutes Tabuthema sei das Verbot jeglicher Verhandlungen mit Moskau, das Selenskyj verhängt hatte, schreibt das Time-Magazin in seiner Titelgeschichte, die die Schweizer Weltwoche mit dem Satz „Kein Geld, keine Waffen, keine Soldaten, keine Moral“ zusammenfaßt.

Deutsche und amerikanische Militär-Analysten raten der Ukraine, sich vom propagierten „Kampf um jeden Quadratmeter“ zu lösen und um Verhandlungen nachzusuchen, solange die Kampfhandlungen in der Ostukraine mangels Bewegungsfreiheit im Schlamm eingefroren sind. Da die Nato-Staaten nicht bereit sind, im konventionellen Bereich all-in zu gehen, um einen schnellen Erfolg zu erzwingen, so der Historiker Sönke Neitzel im Focus, sei die Konsequenz „im besten Fall“ ein langer, viele Jahre dauernder Kampf der Ukraine. Für diesen müsse Kiew mit umfangreichen Waffenlieferungen unterstützt werden, in der Hoffnung, daß Rußland eines Tages aufgibt oder zusammenbricht. Einen Waffenstillstand auf der derzeitigen Frontlinie schließt Neitzel aus, da Kiew dazu noch nicht bereit ist und Putin davon ausgeht, am längeren Hebel zu sitzen.

Sorgen vor fatalen Folgen eines Zusammenbruchs der Ukraine 

Auch ein Zusammenbrechen des ukrainischen Staates will der Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam nicht ausschließen: „Die Folgen wären verheerend. Millionen Flüchtlinge würden sich auf den Weg machen, und das Signal an alle Autokraten dieser Welt wäre, daß es sich lohnt, Krieg zu führen. Sicherheitspolitisch würde damit eine ganz neue Bedrohung für Europa entstehen.“

Noch einen Schritt weiter geht der US-Militärhistoriker Douglas Macgregor. Putin werde nicht noch einmal dulden, „was wir in den letzten zehn Jahren in der Ukraine gemacht haben und nicht zulassen, daß die Ukraine zu einer Festung für den imperialen Einfluß Amerikas und der Nato wird“, so der Ex-Oberst und einstige Berater der Trump-Regierung, in einem in den USA viel beachteten und zitierten Gespräch auf Youtube gegenüber dem Interviewer Stephen Gardner. 

Putin, der eine neutrale Ukraine möchte, werde das derzeit besetzte Territorium, das er als historisch russisch sieht und das über eine russischsprachige Bevölkerung verfügt, behalten und zudem ausziehen, um Charkow und Odessa einzunehmen, wolle aber „keinen Krieg mit dem Westen, der Nato oder irgendjemandem führen. Er möchte nur diese Gebiete unter seine Kontrolle bringen und die dortigen Russen darin innerhalb Rußlands unterbringen.“