© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/23 / 17. November 2023

Ich hatt’ einen Kameraden
Volkstrauertag: Die junge freiheit begleitet die Umbettung von Weltkriegssoldaten in Märkisch-Oderland und trifft einen Veteranen, der nur wenige Kilometer davon entfernt gekämpft hatte
Martina Meckelein

Der Himmel ist grau und bedeckt an diesem Morgen um 8 Uhr in Lietzen. Die Kälte läßt die Bewegungen schmerzhaft werden. Wird es regnen? Ein prüfender Blick in den Himmel. Hier auf einem Hügel in Märkisch-Oderland soll um 11 Uhr an diesem Herbsttag die feierliche Beisetzung für 67 deutsche Soldaten beginnen. Die lange tiefe Grube ist ausgehoben. Vor ihr stehen in Reihe die Särge, auf jedem liegt eine weiße Rose. Es beginnt zu regnen.

Manche Särge sind schwer, wiegen mehrere Kilo, andere sind Leichtgewichte, „in ihnen befindet sich nicht viel mehr als ein Schädel“, sagt Joachim Kozlowski, Mitarbeiter des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Bundesweit bettet er Kriegstote um, wie auch an diesem 19. Oktober. Jeder dieser schwarzen steifen Pappkartons ist die letzte Ruhestätte eines Menschen, eines Wehrmachtssoldaten geworden. Gefallen in der größten Schlacht des Zweiten Weltkrieges auf deutschem Boden, in einem aussichtslosen Kampf für ihr Vaterland. Was mögen diese Soldaten in ihren letzten Stunden geträumt, gewünscht, geflucht oder geweint haben? Wie vielen Zivilisten werden sie einen Ausweg vor den herannahenden Russen freigehalten haben? Sie selbst sind ihn nicht gegangen, dabei waren sie Ehemann, Vater, Sohn, Bruder – aber eben auch Kamerad. 

78 Jahre lang waren sie verschollen. Verscharrt, dort wo sie starben, oder notdürftig beerdigt, irgendwo im Oderbruch. Jetzt, endlich, werden sie ihre letzte Ruhe finden. Zwischen ihren 5.000 Kameraden, die schon in Lietzen bestattet sind. Viele von ihnen haben wieder einen Namen, eine Identität. Allerdings fehlt den Gefallenen immer häufiger eine Familie, die um sie trauern könnte.

„Allein diese 67 Soldaten haben wir in den vergangenen drei Monaten im Umkreis von 15 Kilometern geborgen“, sagt Oliver Breithaupt, Landesgeschäftsführer des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Brandenburg. „15 von ihnen konnten wir identifizieren.“ Eine stattliche Zahl. Nun ergibt sich ein neues Problem. „Wir finden ihre Familien nicht mehr.“ Das erstaunt, ist aber einfach zu erklären: „Viele Angehörige heute wissen zwar noch, daß es einen Großonkel oder Urgroßvater gab, der irgendwo im Osten gefallen oder vermißt ist“, sagt Breithaupt, „aber sollte es jemals eine Vermißtenmeldung gegeben haben, ist die Jahrzehnte alt, die Familienmitglieder, die sie gestellt haben, sind meist ebenfalls tot. Die Adressen sind veraltet. So finden wir die Hinterbliebenen nicht mehr, um sie zu informieren.“ Einzige Chance, den identifizierten Soldaten ihre Familien wiederzugeben wäre: „Die Angehörigen müßten sich nochmals melden.“ Der Wunsch nach Aufklärung der Schicksale ist noch groß. Immerhin wenden sich jährlich 35.000 Familien an den Volksbund, bitten um Hilfe bei der Aufklärung über einen Vermißten.

Mit acht Jahren Hitlerjunge, mit 17 im Schützengraben

Doch was passierte damals, im März 1945 im Oderbruch? Als Zeitzeuge besucht seit Jahren Wolf-Dietrich Kroll (96) die Beisetzungsfeierlichkeiten in Lietzen. „Ich bin hier, um meiner Kameraden zu gedenken“, sagt der gerade stehende alte Herr mit den weißen Haaren. Dafür nimmt er die lange Autofahrt von Berlin in das Oderbruch auf sich. Die Eckdaten seiner viel zu kurzen Jugend sagt er in ein paar Sekunden auf: Mit acht Jahren Hitlerjunge, mit 14 Napola und mit 16 Gestellungsbefehl. „Ich bin eingezogen worden am 1. Oktober 1944, ins Fallschirmjägerersatz- und Ausbildungsbataillon Hermann Göring in Berlin in der jetzigen Julius-Leber-Kaserne.“ 

Wolf-Dietrich Kroll verbringt dort seine Rekrutenzeit. Im Dezember 1944 kommt er an die Front. Er und seine Jungs werden in das Fallschirm-Panzer-Jagd-Bataillon 54 eingegliedert. Es ging über die Oder. „Zuerst kämpfte ich beim Schwedter Brückenkopf, dann Stettiner Brückenkopf bis Anfang März 45, wieder über die Oder zurück westwärts. Wir gingen als letzte zurück, Fallschirmjäger sind eine Eliteeinheit, die sind immer als letzte aus der Stellung weg.“ Im Raum Schwedt wurde er in die 9. Fallschirmjägerdivision eingegliedert, ins Regiment 27. Rund um den 25. März fuhren Kroll und seine Kameraden im Zug bis 15 Kilometer an die Oder heran. Nachts bezogen sie den Schützengraben. Von Ende März bis zum 16. April wird Kroll fast ausschließlich hier liegen. Raus kommen er und seine Kameraden nur, wenn sie Verwundete nach Golzow zum Kompaniegefechtsstand oder tote Kameraden zu einem Gutshof nördlich des Ortes bringen. „Am 16. April ging dann das Trommelfeuer los. Wir sind raus aus den Stellungen und dann weiß ich nichts mehr – bis zum 2. Mai.“

In dem Buch „Totentanz Berlin“ beschreibt Helmut Altner, der nur ein halbes Jahr nach Kroll eingezogen wurde und ebenfalls als 17jähriger an der Oderfront kämpfte, den Beginn der russischen Offensive am 16. April 1945, es ist ein Montag, 4 Uhr nachts: „Das Donnern der Geschütze wird zu einem einzigen Dröhnen. Die Luft ist erfüllt von Heulen, Pfeifen und Zittern und Zischen. Zwischen den kleinen Geschossen dröhnen schwere Brocken ins Hinterland. Sie haben einen Ton, als wenn Eisenbahnwagen eine abschüssige Strecke hinunterlaufen. Vor uns steht eine riesige rote Feuerwand bis in den Himmel hinauf. Rauchwolken ziehen hoch. In den schwarzen Wolken treiben wie riesige Vögel die Schatten von Bombern. (…) Wir ducken uns tiefer in die Gräben. Hinter uns ein Rollen und Pfeifen. Bomben auf Lietzen. In schauriger Schönheit steigen Feuersäulen empor. Häuserdächer und Bäume wirbeln durch die Luft.“

In kühlen Zahlen liest sich die Schlacht folgendermaßen: Sowjets und Polen stellen eine Million Soldaten, 3.155 Panzer und 20.130 Geschütze. Die deutsche Wehrmacht hat noch 190.000 Soldaten, 512 Panzer und 2.625 Geschütze. Es fallen nach deutschen Angaben 70.000 Sowjets, 2.000 Polen und 12.000 Deutsche. Nach russischen Angaben: 33.000 Sowjets und 80.000 Deutsche.

„Ich versuche mir die letzten Stunden dieser Menschen vorzustellen“, sagt Brigadegeneral des Heeres André Abed vom Bundeswehrstandort Strausberg bei seiner Trauerrede in Lietzen. „Das Wissen, daß sie nicht mehr nach Hause kommen werden. Niemand darf behaupten, daß diese Toten keine Stimme hatten, sie hatten keine andere Wahl, sie wurden um ihre Zukunft betrogen.“ Er, wie auch das Landespolizeiorchester Berlin Brandenburg, wie auch Militärdekan Otto Adomat folgen immer wieder aus Überzeugung, wie Breithaupt sagt, der Einladung des Volksbundes. Die Bundeswehr stellt auch eine Ehrenwache. Als das Orchester „Ich hatt’ einen Kameraden“ spielt, muß Kroll leise aufschluchzen.

Der Umbetter legt die Gefallenen wie Wiegenkinder zur letzten Ruhe

Was der Gefreite Kroll in den vier Tagen während der Schlacht an Grauen erlebte, wie er die folgenden zwölf Tage überlebte, erinnert er nicht mehr. „Am 2. Mai, wir waren noch zehn oder zwölf Mann und nördlich von Schwerin, meldeten wir uns beim Regimentsgefechtsstand zurück.“ Es geht schließlich immer noch um den Kampf um Berlin. „Junge, geh nach Hause“, sagt jemand zu Kroll – und der geht, in voller Uniform und Bewaffnung. Schwerin ist seine Heimat. 

In dunkler Nacht klopft er bei seiner Mutter an die Tür, die öffnet und ist entsetzt: „Junge, wo kommst du denn her?“ „Mutti, aus dem Krieg“, antwortet er. „Junge, die Amerikaner sind doch hier“, und mit diesen Worten zieht sie ihn ins Haus. Schnell in die Waschküche und raus aus der Uniform. „Als ich mein Soldatenhemd auszog, sagte meine Mutter: „Junge, du hast da einen Blutfleck, hast wohl einen Granatsplitter abgekriegt!“ 20 Jahre später wird bei einer Röntgenuntersuchung ein Arzt feststellen, daß Kroll einen Schatten hinterm Herzen hat – es ist der Granatsplitter. „Tja, ich habe eben nicht nur das EK II, für den Abschuß eines T-34 mit einer Panzerfaust und das Infanteriesturmabzeichen“, sagt Kroll leise lächelnd. Nach dem Krieg skizzierte Kroll die Lage seiner gefallenen Kameraden auf hellbraunem Papier. Er hat die Zeichnung immer dabei, auch diesmal bei seinem Besuch in Lietzen. „Das Blatt übergab ich später dem Volksbund und der konnte anhand meiner Aufzeichnungen meine Kameraden wiederfinden und umbetten“, erzählt er.

Es hat aufgehört zu regnen in Lietzen. Die Trauergäste gehen, das Musikorchester verstaut die Instrumente im Kastenwagen. Umbetter Kozlowski steht für einen Moment ganz alleine auf dem Grabfeld und schaut auf die Särge, die er ganz vorsichtig zuvor in die lange Grube gesetzt hat, als ob er Wiegenkinder zur Guten Nacht bettet. Die Kränze der Ehrengäste stehen als letzter Gruß am Rande der Grube. Auch Kroll möchte jetzt nach Hause gefahren werden, er ist müde. „Wissen Sie, Ich tue das für meine Kameraden.“ Doch eines ist sich Kroll sicher: „Am 16. April 2025 soll es für mich das letzte Mal werden, daß ich Lietzen besuche.“ Da will er dem Grauen von Seelow und seinen Kameraden zum 80. Mal gedenken. „Denn diese Schlacht war mein Leben.“





„Versöhnung über Gräbern – Arbeit für den Frieden“

16. 12. 1919

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gründet sich nach dem Ersten Weltkrieg, um Kriegsgräber im Ausland zu pflegen. Der Versailler Vertrag bestimmte, daß jeder Staat sich um alle Kriegsgräber seines Gebiets kümmern soll.

1919 

Der Volksbund ruft zum Volkstrauertag auf

1922 

Der Volkstrauertag wird erstmals im Reichstag begangen. Der Reichstagspräsident Paul Löbe hält eine im In- und Ausland vielbeachtete Rede, in der er die Versöhnung betont

1926 

Der Tag wird in allen Ländern der Weimarer Republik einheitlich auf den Sonntag Reminiscere gelegt, den fünften Sonntag vor Ostern, also im Februar oder März

1934 

Die Nationalsozialisten instrumentalisieren den Tag als Heldengedenktag und erheben ihn zum Deutschen Staatsfeiertag. Bis 1945 sind Wehrmacht und NSDAP die Träger

1946 

Der Tag wird in weiten Teilen der Bundesrepublik bis 1951 weiter als „Heldengedenktag“ gefeiert

1950 

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hält im Bundestag in Bonn eine erste zentrale Veranstaltung ab

1952 

Die Bundesländer benennen den Tag mehrheitlich in Volkstrauertag um und begehen ihn zwei Wochen vor dem 1. Advent.

Die DDR instrumentalisiert den Tag als Internationalen Gedenktag für die Opfer des faschistischen Terrors und begeht ihn am zweiten Septembersonntag

1990 

Die neuen Bundesländer schützen den Volkstrauertag gesetzlich