© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/23 / 17. November 2023

Der Patient braucht Infusionen
Bundeswehr: Künftig steht die Landesverteidigung wieder im Mittelpunkt – vorerst aber nur auf dem Papier
Peter Möller

Die von Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Angriff Rußlands auf die Ukraine ausgerufene Zeitenwende für die Bundeswehr hat auch mehr als anderthalb Jahre nach seiner Rede im Bundestag immer noch Überraschungspotential. Etwa wenn Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Zuge der Umsetzung der Zeitenwende dieser Tage davon spricht, daß die Bundeswehr „kriegstüchtig“ werden müsse, und damit über Parteigrenzen hinweg einen Aufschrei auslöst.

„Wir finden es wirklich gut, wenn die Bundeswehr endlich verstärkt wird. Aber wir teilen ausdrücklich nicht die Zielrichtung der Bundesregierung, kriegstüchtig und kriegsbereit zu sein“, sagte etwa der bayerische Ministerpräsident Markus Söder, der bislang nicht als Kritiker der Bundeswehr aufgefallen war, am Montag nach einer Sitzung des CSU-Vorstands. Deutschland beziehungsweise die Bundeswehr sollten verteidigungsbereit sein, aber nicht „kriegstüchtig“ werden, stellte er klar.

Auch in seiner eigenen Partei war der Verteidigungsminister zuvor auf Kritik gestoßen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner warnte im Tagesspiegel davor, das „Verhältnis zum Krieg“ zu „normalisieren“. Der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Rolf Mützenich, verwies darauf, daß seit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik bislang „zu Recht“ von „Verteidigungsfähigkeit“ gesprochen worden sei. Selbst der verteidigungspolitische Sprecher der AfD im Bundestag, Rüdiger Lucassen, riet zu verbaler Abrüstung: „Die Bundeswehr ist 68 Jahre mit dem Begriff ‘verteidigungsbereit’ gut gefahren. Er reicht völlig aus.“

„Mußte meine Leute abhalten,  sich ’ne Kugel zu verpassen“

Doch Pistorius geht es nicht darum, zu provozieren. Nach seinem Verständnis setzt er nur das um, was der Kanzler im Februar 2022 angekündigt hat. Die Zeitenwende besteht nach dieser Lesart nicht allein darin, die Bundeswehr endlich wieder ausreichend zu finanzieren: Die Zeitenwende müsse auch in den Köpfen stattfinden.

Nachzulesen ist dieser angestrebte Mentalitätswandel in den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien, die Pistorius in der vergangenen Woche auf der Bundeswehrtagung in Berlin vorgestellt hat. Die bisherige Richtlinie hatte 2011 der Vorvorvorvorgänger des SPD-Politikers, Thomas de Maizière (CDU), erlassen. Damals herrschte im Gegensatz zu heute in Europa tiefster Frieden und die Bundeswehr wurde darauf getrimmt, als Armee im Einsatz rund um die Welt eingesetzt zu werden, die Landesverteidigung spielte nur noch eine untergeordnete Rolle.

Nun heißt es dagegen in den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien: „Die Russische Föderation bleibt ohne einen fundamentalen inneren Wandel dauerhaft die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum.“ Das habe die brutale Realität des Krieges in der Ukraine deutlich gemacht. „Ein Leben in Frieden und Freiheit ist in der Mitte Europas keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Konsequenz: Die Befähigung zur Verteidigung Deutschlands und seiner Verbündeten bedarf der umfassenden militärischen Vorbereitung bereits im Frieden und dient der Abschreckung.“ Dazu gehöre auch ein Verteidigungshaushalt von dauerhaft mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung.

Diese Aussagen stehen im deutlichen Kontrast zur optimistischer klingenden Richtlinie von 2011, in der es hieß: „Eine unmittelbare territoriale Bedrohung Deutschlands mit konventionellen militärischen Mitteln ist unverändert unwahrscheinlich.“ Deutlich wird die Änderung nicht zuletzt an dem Wort „kriegstüchtig“, das in dem alten Papier nicht ein einziges Mal vorkommt, in der von Pistorius nun vorgestellten Richtlinie dagegen gleich sechsmal. Der Ton hat sich verschärft, der Schwerpunkt liegt wieder eindeutig auf der Landes- und Bündnisverteidigung.

Die Bundeswehr soll zum „Rückgrat der europäischen Sicherheit“ und „dauerhaft und verläßlich zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa“ werden. Nach den Vorstellungen Pistorius’ müsse Deutschland seiner militärischen Verantwortung als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich starkes Land in der Mitte Europas gerecht werden. Die Lücken, die das Einstreichen der sogenannten Friedensdividende seit über 30 Jahren gerissen hat, sind erheblich. Gegen Ende des Kalten Krieges hatte allein die Bundeswehr 50 Prozent der Landstreitkräfte des westlichen Bündnisses in Mitteleuropa gestellt. Heute bieten die Europäer zusammen nur noch 30 Prozent der militärischen Fähigkeiten in der Allianz auf. 1989 hatte die Bundeswehr 36 Brigaden, heute sind es acht – und die sind noch nicht einmal voll ausgestattet. 

Natürlich weiß der Minister, daß er nicht an wohlformulierten Richtlinien, sondern an Taten gemessen wird. Und in der ersten ernsthaften Bewährungsprobe steckt die Bundeswehr bereits. Pistorius hatte im Sommer zur allgemeinen Überraschung angekündigt, zur Stärkung der Ostflanke der Nato dauerhaft eine deutsche Brigade in Litauen zu stationieren. Angesichts der Tatsache, daß die Bundeswehr bereits jetzt Schwierigkeiten hat, die der Nato zugesagten Kräfte für die schnelle Eingreiftruppe des Bündnisses zusammenzubekommen, bedeutet diese Ankündigung eine Herkulesaufgabe. Doch in der vergangenen Woche hat Pistorius nun einen Stationierungsplan vorgelegt: Demnach soll die 2003 aufgelöste Panzerbrigade 42 neu aufgestellt werden und ihr das Panzergrenadierbataillon 122 aus Oberviechtach sowie das Panzerbataillon 203 aus Augustdorf unterstellt und nach Litauen verlegt werden (JF 46/23). Als drittes Bataillon wird nach Angaben des Verteidigungsministeriums die Nato-Truppe „Enhanced Forward Presence Battlegroup“, die durch in Deutschland stationierte und regelmäßig rotierende Verbände gestellt wird, der Brigade zugeordnet.

Für Pistorius hat die Verlegung eines Großverbandes mit bis zu 4.800 Soldaten in das Baltikum eine herausragende Bedeutung: „Die Brigade Litauen ist das Leuchtturmprojekt der Zeitenwende“, sagte er. Das Heer habe in kurzer Zeit einen sehr ausgewogenen Vorschlag ausgearbeitet. „Wir werden trotz Aufstellung der Brigade in Litauen nicht nur die Standorte in Deutschland erhalten, sondern die Stationierung an den Standorten mittelfristig auf einem vergleichbaren Niveau halten“, bekräftigte der Verteidigungsminister. Die Verlegung der beiden Bataillone soll an den betroffenen deutschen Standorten Augustdorf und Oberviechtach durch Neuaufstellungen beziehungsweise Verlegungen kompensiert werden.

Bereits in der ersten Jahreshälfte 2024 werde ein Vorkommando der reaktivierten Brigade nach Litauen verlegt, in der zweiten Jahreshälfte 2024 ein sogenannter Aufstellungsstab. „Das heißt, wir werden bis Ende nächsten Jahres mit einer niedrigen dreistelligen Anzahl an Soldatinnen und Soldaten vor Ort sein“, kündigte Pistorius an. Derzeit laufen Gespräche mit der litauischen Regierung, um für die notwendige Infrastruktur zu sorgen. Neben Kasernen geht es dabei vor allem um Wohnungen sowie Kitas und Schulen für die Familien der deutschen Soldaten, die jeweils bis zu drei Jahre im Baltikum stationiert werden sollen.

Daneben soll es, vor allem in der Anfangszeit, einen Pendelverkehr mit Flugzeugen von und nach Deutschland geben. Das Ministerium setzt nach wie vor auf Freiwilligkeit bei der Stationierung an der Ostflanke der Nato. Gelockt werden soll mit Arbeitsplätzen auch für Ehepartner, Zulagen und einem früheren Pensionsalter. Dennoch scheinen sich nicht alle für diese Verwendungen begeistern zu können. „Als damals die Meldung von der dauerhaft in Litauen stationierten Brigade eintrudelte, mußte ich meine Leute davon abhalten, sich mit der P8 ’ne Kugel zu verpassen“, schilderte ein Infanterieoffizier – bewußt überspitzt – die ersten Reaktionen. Selbst im Bendlerblock ist nicht klar, ob angesichts der erforderlichen Zahl dieses Freiwilligkeitsprinzip bis zum Ende durchzuhalten bleibt. Dies sei ja auch „nicht das allerhöchste Organisationsprinzip der Bundeswehr“, bekräftigte ein Sprecher des Ministeriums.

Spannend wird darüber hinaus, ob das Bataillon aus Augustdorf auch rechtzeitig zur Verlegung wieder über Panzer verfügt. Seine Leopard 2A6 sind in die Ukraine abgegeben worden, die moderneren Leopard 2A8 erst bestellt. Zunächst 18 Stück, ein Bataillon braucht mehr als 40. Ab 2025 sollen die ersten aus der Fabrik rollen, also genau dann, wenn es für die Truppe nach Litauen geht. Im Hause Pistorius herrscht indes Zweckoptimismus. Man werde „mit dem materiellen Neuaufwuchs dieses Bataillons dann vor Ort neu starten“. Die Panzer seien „bestellt und auch finanziert und werden, so schnell die Industrie es eben hergibt, die gepanzerte Spitze dieser Brigade bilden“, teilte der Ministeriumssprecher mit. 





Veteranentag soll kommen

Im Bundestag zeichnet sich eine Einigung zwischen Ampelkoalition und Union ab, ehemalige Soldaten der Bundeswehr mit einem Gedenktag zu würdigen. „Deutschland bekommt einen Veteranentag“, kündigte SPD-Verteidigungspolitiker Johannes Arlt an. Bereits im September hatte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen Antrag mit der Forderung eingebracht, einen „nationalen Veteranentag zur Würdigung der Leistungen und der Opfer aller aktiven und ehemaligen Soldaten der Bundeswehr“ einzuführen. Vorgeschlagen wurde, den Gedenktag jährlich am 12. November, dem Gründungstag der Bundeswehr 1955, zu begehen. Die AfD monierte, im Antrag der Union fehlten „konkrete Maßnahmen oder ein ausgefeiltes Konzept“. So gebe es in Deutschland „bis heute keine Einrichtung für Veteranen wie beispielsweise in den USA“, so der AfD-Bundestagsabgeordnete Hannes Gnauck seinerzeit während der ersten Debatte zum Antrag. Nun heißt es, bis zum endgültigen Beschluß müßten Ampel und Union nur noch ein paar Details klären. Ausdrücklich gegen einen Veteranentag hat sich die Linkspartei ausgesprochen. (vo)