Herr Stolz, hat die Linke ein Antisemitismusproblem?
Rolf Stolz: O ja. Natürlich nur in Teilen und auch nicht sie allein. Linken Antisemitismus habe ich aber bereits als Schüler 1967 miterlebt.
Inwiefern?
Stolz: Als Israel den Sechstagekrieg führen mußte, um einem Angriff seiner Nachbarn zuvorzukommen, demonstrierte ich mit dem Slogan „Helft Israel!“ auf meiner Jacke. Und erntete bei einem Teil der sich für links haltenden Jugendlichen sehr negative Reaktionen.
Ist das schon Antisemitismus? Zum Vergleich: Nur weil Deutschland im Gaza-Krieg auf der Seite Israels steht, leitet sich doch daraus auch kein „Antiarabismus“ ab.
Stolz: Sie vergessen, daß dieser Krieg der Hamas gilt, nicht den Arabern. Damals war das anders: Die arabischen Staaten hatten geschworen, Israel zu vernichten. Eine Niederlage hätte zur Auslöschung des jüdischen Staates geführt sowie mit ziemlicher Sicherheit zu einem Massaker zumindest an einem Teil seiner Bevölkerung! Dennoch hat die Linke in Gestalt der kommunistischen Staaten die Araber unterstützt und mit modernsten Waffen ausgerüstet. Hätte das zum erhofften Erfolg geführt, hätte außer den Nationalsozialisten heute auch die Linke einen Völkermord an den Juden auf dem Gewissen! Zu dem es dann nur um Haaresbreite 1973 im Jom-Kippur-Krieg doch nicht gekommen ist.
Der Ostblock ist seit über dreißig Jahren Geschichte, wie sieht es mit der Linken von heute aus?
Stolz: Ein aktuelles Beispiel für deren virulenten Antisemitismus ist etwa der prominente britische Linke Jeremy Corbyn, Ex-Gewerkschaftsfunktionär und bis 2020 Vorsitzender der Labour-Partei sowie Oppositionsführer, der es abgelehnt hat, das Massaker der Hamas vom 7. Oktober zu verurteilen. Nachdem er bereits 2009 Hamas und Hisbollah als „Freunde“ bezeichnet oder 2014 an einem Gedenken für die Mörder der israelischen Olympia-Mannschaft von 1972 teilgenommen hatte. Oder nehmen Sie die Weigerung der französischen Linkspartei La France insoumise, sich an der großen Demonstration gegen Antisemitismus am vergangenen Sonntag in Paris zu beteiligen und deren Verunglimpfung durch den Parteichef Jean-Luc Mélenchon: Er hat sie öffentlich als die „Demo derjenigen, die das Massaker in Gaza ohne Wenn und Aber unterstützen“, geschmäht. Ein Verhalten, das im Klartext bedeutet, daß er und seine Partei sich auf die Seite des Antisemitismus in den Banlieues schlagen! Und das in Anbetracht dessen, daß der Antisemitismus in Frankreich eine blutige Angelegenheit ist: Man denke zum Beispiel an den Fall des Pariser Verkäufers Ilan Halimi, der 2006 weil Jude entführt und über 24 Tage zu Tode gefoltert wurde, an die Ermordung dreier Kinder und eines Lehrers einer jüdischen Schule 2012 in Toulouse, den Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt in Paris 2015 mit vier Toten oder die jüdische Rentnerin, die 2017 in ihrer Pariser Wohnung erst schwer mißhandelt und dann vom Balkon in die Tiefe gestürzt wurde.
Weder Corbyn noch La France insoumise sind allerdings „die“ Linke.
Stolz: Völlig richtig, aber sehen Sie, wie viele derzeit behaupten, Israel begehe einen Genozid im Gazastreifen. Tatsächlich aber ist dieser Tatbestand im Fall der Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach erfüllt, deren Zeugen wir jüngst tragischerweise geworden sind. Will man nun etwa behaupten, Israel vertreibe ebenso sämtliche Palästinenser aus Gaza?
Ist es nicht verständlich, daß im Krieg die Emotionen hochschlagen? Auch wenn trotz all des Grauens im Gazastreifen der Vorwurf des Genozids eine Übertreibung ist, ist er doch noch kein Beleg für Antisemitismus.
Stolz: Nein, natürlich nicht. Aber zu den entsprechenden Demonstrationen hierzulande versammeln sich ja nicht nur empörte arabische Normalbürger, sondern vielfach Bündnisse, die von Linken bis hin zu Islamisten reichen, an deren Antisemitismus kaum ein Zweifel bestehen kann. Und von diesen wird die Genozid-These ausgegeben – die dann wiederum von den Linken mit unterstützt wird ...
Das ist verwerflich, macht einen aber selbst noch nicht zum Antisemiten. Deutschland unterstützt auch Saudi-Arabien und teilt dennoch nicht die dortigen Werte.
Stolz: Sie haben mich nicht aussprechen lassen: den Linken, die an diesen Demonstrationen nicht aus unpolitischer, rein humanitärer Empörung teilnehmen, sondern die die antisemitische Genozid-These aufnehmen, weil sie Israel als feindliches imperialistisches Gebilde sehen.
Dann ist ihr Haß „antiimperialistisch“, aber immer noch nicht antisemitisch.
Stolz: Sie übersehen, daß er im Zuge des gemeinsamen Kampfes gegen Israel eben diesen Charakter annimmt. Zum Beispiel, wenn eine eigentlich hochintelligente Linke wie Ulrike Meinhof 1972 den Mord an den elf israelischen Olympioniken in München rechtfertigte. Oder als deutsche Terroristen mit der linksrevolutionären Volksfront zur Befreiung Palästinas PFLP kooperierten, die sowohl die Entführung der „Landshut“ 1977 nach Mogadischu zu verantworten hatte, wie auch die einer Air-France-Maschine 1976 nach Entebbe. Zu deren Entführern gehörten auch zwei Deutsche, die rasch Teil der antisemitischen Logik der Aktion wurden, nämlich als ihre PFLP-Genossen ihnen befahlen, aus den Passagieren alle Juden zu selektieren, um diese bei Bedarf zu ermorden – während die übrigen größtenteils freigelassen wurden. Was ich deutlich machen möchte: Es liegt in der Natur der Sache, daß in einer Bewegung, die sich aus mehreren Quellen speist, die Motivation der einzelnen von der Gesamtstoßrichtung überdeckt wird. So zielte etwa die PFLP natürlich darauf, den Staat Israel zu vernichten, auch wenn sie als linke Organisation vielleicht nicht jeden einzelnen Juden vertreiben wollte. Und diese Logik erfaßte im gemeinsamen Kampf auch ihre deutschen Genossen, selbst wenn dies ursprünglich nicht deren Ziel gewesen sein mag.
Es gibt also auf der Linken nur Antisemitismus als Effekt, nicht als Motiv?
Stolz: Doch, es gab auch originäre Antisemiten, etwa Eugen Dühring, der Ende des 19. Jahrhunderts zu den Begründern des modernen Antisemitismus zählte und der in Teilen der damaligen SPD sehr beliebt war. Auf der Linken wurde durchaus auch von „jüdischem Kapital“ oder „Börsen-Juden“ gesprochen, und die KPD-Führerin Ruth Fischer forderte 1923: „Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie!“ Da sind fatale Parallelen zum Antisemitismus der Nationalsozialisten offensichtlich, die ebenfalls Wut- und Neidgefühle zu schüren suchten. Etwa indem sie dem Bild des schwerarbeitenden, braven Arbeiters und Bauerns, der des Abends erschöpft heimkehrt, den faulen „Judenlümmel“ gegenüberstellten, der im blütenweißen Sportanzug den Tag mit Tennis verbringe. Bis zur Entstalinisierung unter Nikita Chruschtschow war der Antisemitismus in den Ostblock-Staaten immer wieder virulent, einschließlich Pogromen.
Und im Westen?
Stolz: Da legte etwa die linksextreme Gruppe „Tupamaros“ ausgerechnet am 9. November 1969, am Jahrestag des NS-Pogroms von 1938, eine Bombe im jüdischen Gemeindezentrum West-Berlin, als dort die Gedenkfeier stattfand. Zum Glück versagte der Zünder. Kopf der Gruppe war der bekannte linke Aktivist Dieter Kunzelmann, der sich öffentlich auch über den „Judenknacks“ der Deutschen sowie den „Philosemitismus“ vieler Linker mokierte, den beide endlich überwinden sollten. Weggefährten sagten später über ihn, er habe damals wie ein Antisemit gehetzt, etwa über „Saujuden“ geschimpft. Dennoch saß Kunzelmann später für die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus.
Sie gehören zu den Mitbegründern der Grünen, waren anfangs Mitglied des Bundesvorstands, und davor beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund, aus dem die APO entstand, und bei der KPD/ML aktiv. Haben Sie dort je Antisemitismus erlebt?
Stolz: Nein, der war bis zur Gründung der Grünen 1980 längst abgeflaut. Und kam erst in den neunziger Jahren zurück, als der Partei immer mehr Leute mit muslimischem Hintergrund beitraten.
Was ist mit der Teilnahme Joschka Fischers 1969 an einem PLO-Kongreß in Algier?
Stolz: Das war lange vor seiner Karriere bei den Grünen.
Ja, doch zu dieser Zeit hatte sich die PLO noch die Vernichtung Israels auf die Fahnen geschrieben und förderte zudem den Terrorismus.
Stolz: Stimmt, doch auch wenn ich Joschka Fischer alles Mögliche vorhalten würde – Antisemitismus ganz bestimmt nicht! Sein Motiv 1969 war eher die Suche nach Kontakten, Rückhalt und Aufmerksamkeit. Allerdings hatte er andererseits keine Skrupel, den Holocaust für seine Politik zu mißbrauchen. So rechtfertigte er mit diesem zum Beispiel 1985 die angebliche moralische Pflicht, wegen Auschwitz auf die deutsche Wiedervereinigung zu verzichten oder 1999 den Nato-Einsatz im Kosovo.
Der schwerwiegendste antisemitische Vorfall hierzulande seit langem – jenseits von Gewalt natürlich –, war wohl jener auf der Documenta 2022, verantwortet von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Grünen Claudia Roth.
Stolz: Auch hier Entwarnung, denn wie Fischer kenne ich Roth von früher: Ihre skandalöse Ignoranz gegenüber den antisemitischen Symboliken, die auf der Documenta von der indonesischen Künstlergruppe Ruangrupa ausgestellt wurden – etwa Soldaten mit Schweinsgesicht, die einen Davidstern an der Uniform oder die Aufschrift „Mossad“ auf dem Helm trugen – erklärt sich bei Roth durch ihren Selbsthaß auf alles Deutsche, den ich schon 1990 in meinem Buch „Der deutsche Komplex. Alternativen zur Selbstverleugnung“ beschrieben habe.
Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Stolz: Im Umkehrschluß sind in Roths Vorstellung „die anderen“ die Guten und folglich wird bei diesen über alles, was die grüne heile Welt stören könnte, hinweggesehen. Was bei Roth auch eine Form von Opportunismus ist, denn sie hat das, was von diesen Künstlern kam, unwidersprochen gelassen. Folglich war es für sie schwer, später zuzugeben, daß sie einen Fehler gemacht hat, nämlich blind mit dem Strom zu schwimmen, sich bequem in den Konsens des woken Antikolonialismus einzureihen. Immer im Vertrauen darauf, damit bei der Mehrheit zu sein und also kein Risiko einzugehen – um dann aber so ungeschminkt den Spiegel vorgehalten zu bekommen, der nicht nur ihren Fehler zeigt, sondern auch ihr Mitläufertum offenbart! Verständlich, daß jemand wie Claudia Roth darauf enttäuscht und mißmutig reagiert. Allerdings werden Sie nicht nur bei den Grünen fündig. Denken Sie etwa an den Skandal, als 2010 zwei Bundestagsabgeordnete der Linken an Bord der israelfeindlichen BDS-Flotte gingen. Oder daß 2012 das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles fünf „israelkritische“ Aussagen des Freitag-Herausgebers Jakob Augstein auf seine jährliche Rangliste der „Top Zehn antisemitischen/antiisraelischen Verunglimpfungen“ setzte.
Nun ist der Skandal erneut hochgekocht: Angeblich findet sich wieder ein Antisemit in der vierköpfigen Findungskommission, diesmal für die Documenta 2027.
Stolz: Ob der Schriftsteller Ranjit Hoskoté ein Antisemit ist, will ich nicht beurteilen, aber angesichts seiner Unterschrift für die definitiv antisemitische BDS wurde sein Rücktritt unvermeidlich.
Auch am Montag stürmte ein empörter Teilnehmer einer Großdemo gegen den Klimawandel in Amsterdam die Bühne und entriß Greta Thunberg vor 85.000 Versammelten das Mikrofon (siehe Seite 24), da sich die Schwedin erneut pro-palästinensisch geäußert hatte.
Stolz: Greta Thunbergs Gesinnung ist ohne jeden Zweifel weit weg vom Terror der Hamas. Nur kann man nicht immer nur nach der Motivation fragen, sondern muß auch die Wirkung beachten. Denn wenn viele wohlmeinende Menschen in die falsche Richtung strömen, kann auch das fatale Folgen haben. Was bedeutet es, wenn eine so große Bewegung wie die Thunbergs verbreitet, Israel begehe einen Genozid? Angesichts dessen, daß gegen einen solchen jeder Widerstand legitim wäre ...
Für Aufmerksamkeit sorgte in der Woche zuvor die Rede Robert Habecks, in der er wiederholte, was kurz zuvor schon Friedrich Merz beteuert hatte: Man tue alles, damit Juden sicher hierzulande leben könnten. Wie sind solche Bekenntnisse, die in völligem Widerspruch zur Politik ihrer Parteien stehen, zu erklären?
Stolz: Tja, ist das kognitive Dissonanz? Ich denke eher, es ist Unaufrichtigkeit, nicht nur vor der Öffentlichkeit, auch vor sich selbst. Sie könnten Maßnahmen ergreifen, um dieses Versprechen umzusetzen. Das aber wagen sie nicht, weil die Reaktionen drastisch wären. Also flüchten sie sich in pathetische Beschwörungen, mit denen sie auch sich selbst etwas vormachen.
Die spätere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, sagte im Interview mit dieser Zeitung, Philosemiten seien im Grunde ähnlich gefährlich wie Antisemiten.
Stolz: Ja, denn beide verbindet, daß sie die Juden nicht als ein normales Volk betrachten. Während der eine ihnen jede Schandtat zutraut, setzt der andere übermenschliche Erwartungen in sie, die sie nicht erfüllen können. Beides ist neurotisch und schädlich. Und man kann den Deutschen nur raten, zum Wohle aller, einschließlich der deutschen Juden, das endlich hinter sich zu lassen.
Rolf Stolz ist seit Bildung der Grünen im Januar 1980 Mitglied der von ihm mitgegründeten Partei. Bis 1981 gehörte er dem Bundesvorstand an, zudem der Bundesprogrammkommission. Politisch aktiv ist er seit 1967, erst im SDS, dann in der KPD/ML. Der Psychologe, geboren 1949 in Mülheim/Ruhr, schrieb etliche Bücher, darunter „Der deutsche Komplex“.