© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 47/23 / 17. November 2023

Grünes Gängelband lösen
Schwarz-rote Koalition in Hessen: Leitet Boris Rhein eine Neuausrichtung der CDU auch auf Bundesebene ein?
Werner J. Patzelt

Die Grünen, lange Sehnsuchtspartner der Union, bekamen vom hessischen CDU-Ministerpräsidenten den Laufpaß. Das tat er nach zehn Jahren guten Zusammenwirkens – und zugunsten einer SPD, die in Hessen ihr schlechtestes Nachkriegsergebnis einfuhr. Jetzt liegt sie hinter der AfD und leicht vor den Grünen. Warum verhielt sich Boris Rhein so?

Die hessische CDU erreichte 2003, also vor Angela Merkels Regierungszeit als Kanzlerin, fast 49 Prozent der Stimmen. 2018 dann, nach 13 Merkel-Jahren an der CDU-Spitze, war sie auf 27 Prozent gesunken. Jetzt, ohne Merkel sowie angesichts einer höchst unpopulären Ampelregierung, legte Hessens CDU zwar um sieben Prozentpunkte zu. Trotzdem ist sie zu schwach geworden, um mit der gerade noch in den Landtag gekommenen FDP eine Regierung bilden zu können. Ohne einen stärkeren Koalitionspartner ging es also nicht.

Als Kellnerin konnte Chefkoch Boris die SPD – stark gedemütigt durch einen weiteren Absturz um fast fünf Prozentpunkte – leichter gewinnen als die ebenfalls gefledderten Grünen. Die Sozialdemokraten sahen nämlich williger ein, daß gerade die Migrationspolitik alle etablierten Parteien nach unten gezogen hatte, und daß deren ideologische Rechtfertigungen die schwierigen Anschlußprobleme in den Kommunen nicht mehr überblenden können. 

Vielleicht hat die CDU auch einzusehen begonnen, daß die Politik der Grünen diese Partei zwar zum Liebling von Medien und Akademikern machte, ja auch bis zur Macht auf Bundesebene führte, daß eben diese Politik hingegen der Union, die nun lange schon die Grünen hofiert, ein bundesweites Absinken bescherte. Nämlich von „vor-willkommenskulturellen“ gut 41 Prozent auf „20 plus x“, kurz vor dem Angriff Putins auf die Ukraine.

Wirklichkeitseinbrüche wie dieser in die politischen Wohlfühlblasen Deutschlands beenden nun jene Ära, in der sich fortschrittlich Dünkende der politischen Weisheit letzten Schluß in grünen Politikzielen zu erkennen glaubten. Zwar machten sich auch die Sozialdemokraten nach Helmut Schmidts Regierungszeit den – bis vor kurzem – so modischen grünen Pazifismus zu eigen. Doch Angela Merkel rundete ihn politisch ab durch die Nutzung der Bundeswehr für Einsparungen im Bundeshaushalt.

Dann irrlichterte die CDU-Kanzlerin bei der Nutzung der Kernenergie: Kaum war die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängert, verkündete Merkel auch schon – aus Angst mehr vor einem demoskopischen als vor einem wirklichen Tsunami – für Strom aus Kernkraft jenes Aus, das die Grünen seit ihren Anfängen gefordert hatten. Obendrein verwirklichte gerade die CDU die grünen und sozialdemokratischen Wünsche nach einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland, indem ihre Mehrheit die selbstermächtigte Zuwanderung als politisch nicht einzuschränkendes Menschenrecht und die Skeptiker als verblendete Rassisten ausgab.

Und ja, daß der Islam zu Deutschland gehöre, verkündete zum Wohlgefallen der Grünen ein von  Merkel ausersehener Bundespräsident – und daß der Islamismus gar nichts mit dem Islam zu tun hätte, erklärte die Kanzlerin gleich selbst.

Derweil stiegen die Stimmenanteile der 2013 knapp nicht in den Bundestag gelangten AfD laut  derzeitigen Antworten auf die „Sonntagsfrage“ auf 20 und mehr Prozent. Bei Hessens Landtagswahlen war es ganz ähnlich. Von den ostdeutschen Wahlperspektiven der AfD muß man ohnehin nicht lange handeln. Überall entspricht dem Aufstieg der AfD ein Abstieg der CDU. 

Gäbe es nicht das Tabu, die Stimmenanteile von CDU und AfD zu addieren, dann wäre es zur auch im öffentlichen Diskurs erörterbaren Tatsache geworden, daß diesen zwei Parteien in Hessen die Stimmen von 53 Prozent der Wähler zufielen. Zusammen mit fünf Prozent FDP-Stimmen läuft das auf eine sehr klare Mehrheit hinaus, die ausdrücklich nicht-links wählt.

Nun wird man beträchtliche Teile der heutigen CDU weiterhin als sozialdemokratisiert und angegrünt einschätzen dürfen. Doch vermutlich ist auch den hessischen Parteistrategen beim Blick auf Wählerwanderungen aufgefallen, daß gar nicht wenige Leute seit Jahren lieber das grüne Original wählen als Unionskarrieristen im grünen Tarnfleck. Weil ferner viele Unionisten beim Umgang mit den in ihrer Partei verbliebenen Konservativen ganz offensichtlich große Kontaktschuldsorgen umtreiben, erringt die AfD die Masse ihrer Stimmenzuwächse weiterhin nicht nur unter Nichtwählern, sondern auch bei enttäuschten CDU-Wählern.

Wer übrigens die Positionen von Grünen und AfD zur Migrationspolitik, zur Energiepolitik und zum eigenen Land vergleicht, der merkt unweigerlich, daß die AfD – wie viel Rechtsradikalismus und Rassismus unter ihren Mitgliedern auch gären mag – in erster Linie die politisch-populäre Antwort auf Deutschlands Reise in grüne Illusionsgefilde ist. 

Das Wählerverhalten rät der Union somit zu einer strategischen Neuausrichtung. Die aber braucht passende Mehrheitsverhältnisse. In Baden-Württemberg fehlen sie bis mindestens 2026. In Hessen waren sie gegeben, klarer noch als in Bayern, wo die Grünen nur eine Möchtegern-Alternative zu Aiwangers Partei waren. 

Vor diesem Hintergrund hat Boris Rhein nun Schützenhilfe für CDU-Chef Friedrich Merz geleistet, vermutlich zum Mißfallen der Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, Hendrik Wüst und Daniel Günther. Die hoffen weiterhin auf die grüne Partei als Nachfolgerin jener FDP, mit der die Union jahrzehntelang zum eigenen und zu Deutschlands Vorteil regierte. Doch auch wenn sie schrumpfen sollten, werden die Grünen einflußreich bleiben, solange ihre Sympathisanten wichtige Posten in den Medien, an Universitäten und bei öffentlich einflußreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen innehaben und ihre Reihen gegen Eindringlinge abschotten.

Weiterhin findet sich kein Weg, Deutschlands inzwischen nicht-linke Wählermehrheit in ebenso nicht-linke Parlamentsmehrheiten umzusetzen. Nur dann aber ließe sich Politik wieder als respektable Mehrheitspolitik betreiben – und nicht länger als ein Erziehungsprojekt. Genau darauf reagiert die Bevölkerung um so zorniger durch Zuwendung zur AfD oder in Vorfreude auf Wagenknechts Querfront-Partei, je öfter sich die CDU als Steigbügelhalterin woker Minderheiten verdingt. In Hessen hat sie jetzt ein Zeichen gesetzt – und das war auch gut so.






Werner J. Patzelt ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft an der TU Dresden.