© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/23 / 10. November 2023

Der Flaneur
„Punk“ in Latschen
Ludger Bisping

Ich weiß nicht, wer wann dieses beknackte Modediktat erfunden hat, daß Socken in Sandalen ein „No-go“ seien. Habe ich nie verstanden. Schon aus praktischen Gründen, weil die Sandalenriemen mit Socken nicht scheuern und das Fußbettmaterial keinen Schweiß aufnimmt. Aber auch aus ästhetischen Motiven: Ich bin jedem herzlich dankbar, der mir nicht seine rissige Hornhaut und verkorksten Zehennägel präsentiert, sondern diese blickdicht in Socken verhüllt. Danke!

Bisher sah man diese angebliche Modesünde gewöhnlich an männlichen Touristen zwischen Midlife-Krise und Renteneintrittsalter. Doch in letzter Zeit staune ich regelmäßig über adoleszente Kerle in voller Blüte und mit vollem Haar, die ohne jede Scham in Adiletten und Tennissocken daherkommen – sogar im Herbst und fern des Ballermanns! 

Influencer brachten den umstrittenen Trend in die sozialen Medien und auf die Straßen.

Daß sie die verruchte Kombination aus fehlendem Modebewußtsein tragen, widerlegen ihre modischen Accessoires und Frisuren. Ich bin verwirrt. Ist der verhängte Bann von einer Revolution hinweggefegt worden? Selbstironische Provokation oder urbane frierende Psychose? Barfußtrend light oder Rotationseuropäertum strong?

Ein Blick ins Internet klärt mich auf: Seit die Sandale-Socke-Sünde an den Beinen einiger mir unbekannter „Promis“ fotografiert wurde, ist die stilistische Ordnungswidrigkeit zum Trend transformiert. Influencerinnen empfehlen geeignete Sandalen; Modejournale loben Tennissocken plötzlich als „leger und sportlich“ („Mit bunten Socken läßt sich dagegen ein stylisches Statement setzen“). Dazu paßt, daß das deutsche Traditionsunternehmen Birkenstock, bei dem der Luxuskonzern LVMH eingestiegen ist, an die Börse gegangen ist.

Ist die Rückkehr der Sockensandalen nun ein begrüßenswerter Akt der Emanzipation von der Willkür des Modediktats oder ein Dammbruch enthemmter Verlottertheit? Ich bin mir selbst nicht ganz im klaren. Sicherheitshalber trage ich persönlich weiße Socken in Badelatschen nur auf der heimischen Terrasse, fremden Blicken entzogen. Und ehrlich gesagt: Es fühlt sich schon ein bißchen nach Revoluzzertum gegen die Couture-Spießer an.