Wie in jedem Herbst steigt die Zahl der Atemwegsinfektionen wieder langsam an, auch mit Sars-CoV-2. Nach drei Jahren Pandemie ist das Coronavirus in eine endemische Phase übergegangen. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden bis Oktober weltweit 771 Millionen Fälle diagnostiziert. Seit Ende 2019 wurden sieben Millionen mit oder an Covid-19 Verstorbene gezählt. Laut dem ARE-Wochenbericht (42/23) des Robert-Koch-Instituts (RKI) wird die Zahl der akuten Atemwegserkrankungen (ARE) in Deutschland auf insgesamt 6,6 Millionen geschätzt. Die jüngste und die älteste Altersgruppe war dabei am meisten von schweren Krankheitsverläufen betroffen.
Im Nationalen Referenzzentrum (NRZ) für Influenzaviren des RKI wurden in der 40. bis 42. Kalenderwoche insgesamt 428 Sentinelproben analysiert. In 232 davon (54 Prozent) wurden überwiegend Rhinoviren (125 Proben/54 Prozent) und Sars-CoV-2 (84/36 Prozent) identifiziert. Der Rest waren Parainfluenzaviren (PIV/18/7,8 Prozent) und vereinzelt Influenza, humane saisonale Coronaviren (hCoV) sowie respiratorische Synzytialviren (RSV). Covid-Infektionen werden vom RKI nicht mehr gesondert, sondern wie auch die Grippe als Teil der ARE dokumentiert. Die 1.700 Arztbesuche pro 100.000 Einwohner wegen akuter Atemwegserkrankungen ARE ergeben in Deutschland hochgerechnet 1,4 Millionen ARE-Fälle.
Die neue Killer-Variante von Sars-CoV2 ist bislang ausgeblieben
Aktuell breitet sich vor allem die Corona-Variante Eris (EG.5) aus. Pirola (BA.2.86) ist ein Randphänomen. Im Frühjahr war Arcturus (XBB.1.16) in den Schlagzeilen, davor die Omikron-Sublinie XBB.1.5 – die Phantasie bei der Namensgebung ist unerschöpflich. Laut der US-Gesundheitsbehörde CDC sind alle Varianten sehr ansteckend und es könne auch bei vollständiger Impfung zu Durchbruchsinfektionen kommen. Es gibt momentan aber keine Hinweise darauf, daß die neuen Varianten gefährlicher sind. Eine neue „Killervariante“, vor der SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach immer wieder warnt wird, ist bislang nicht beobachtet worden – das Coronavirus hat sich wie die anderen ARE-Viren an den Menschen angepaßt.
Laut dem für Impfstoffe zuständigem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) sind aktuell sieben angepaßte Covid-19-Impfstoffe verfügbar, darunter auch ein mRNA-Vakzin, das einige der neuen Varianten neutralisieren soll. Gut drei Viertel der Einwohner Deutschlands sind mittlerweile mindestens zweimal geimpft. Die meisten haben zudem schon eine Infektion durchgemacht; damit verfügen sie über eine gute Grundimmunisierung gegen das Coronavirus. Eine überstandene Infektion schützt vor einer Neuinfektion wahrscheinlich besser als eine Impfung. Dennoch wird von der Ständigen Impfkommission (Stiko) eine jährliche Auffrischungsimpfung empfohlen – ab dem Alter von 60, bei Vorerkrankungen und für Beschäftigte im Gesundheitsbereich.
Doch „Piks-Empfehlungen“ der Stiko verhallen, die Corona-Impfstoffe sind ein Ladenhüter – und die Aktienkurse von Biontech und Pfizer rauschten in den Keller. Laut RKI haben bisher lediglich 2,5 Millionen eine dritte oder mehr Auffrischimpfungen erhalten. „Leider ist die Impfbereitschaft gegen Covid derzeit viel zu gering. Nur ein Bruchteil der Risikogruppen hat den neuen angepaßten Impfstoff bisher genutzt“, klagte Lauterbach auf dem Kurznachrichtendienst X (früher Twitter). Ein Großteilteil der – auch schon von Lauterbachs Vorgänger Jens Spahn (CDU) bestellten – Millionen an Impfdosen wird wohl ungenutzt verfallen.
Neues „Steckenpferd“ von Lauterbach ist ohnehin Long-Covid – die Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion. Diese beinhalten Entzündungen, Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Probleme und Erschöpfung, ähnlich dem chronischen Erschöpfungssyndrom (CFS). Laut WHO leidet einer von 30 Corona-Infizierten an Long-Covid. Der Gesundheitsminister geht von bis zu 20 Prozent der Infizierten aus. Solche Zahlen sind mit einem großen Fragezeichen zu versehen.
Die Erkrankungszahlen bei Long Covid werden wohl überschätzt
Einer kürzlich erschienenen Generalabrechnung der Forscher Tracy Beth Høeg, Shamez Ladhani und Vinay Prasad im Medizinjournal BMJ Evidence-based Medicine zufolge waren die meisten Long-Covid-Studien voller Mängel und Lücken. Die Erkrankungszahlen würden daher überschätzt. Die Definitionen der Symptomatik wären zu breit und nicht spezifisch genug, und es fehlten Kontrollgruppen. Die hohen Zahlen würden über die sozialen Medien zu viel Angst und Depression führen. Viele der Long-Covid-Symptome seien identisch mit dem Post-ICU-Syndrom nach einer Behandlung auf der Intensivstation und anderen Pneumonien, welche durch respiratorische Viren verursacht werden. Long-Covid gibt es, deshalb sollte hier mehr geforscht werden, so die Empfehlung der BMJ-Autoren. Auch Lauterbach will 60 Millionen Euro dafür bereitstellen.
Es fehlt allerdings die Bereitschaft, Geld für die Erforschung von Impfnebenwirkungen und Long-Covid-Symptomen nach einer mRNA-Impfung bereitzustellen. Denn die Fehltage wegen Depressionen und Angststörungen nehmen tatsächlich zu: „Ein Anstieg von einem Viertel gegenüber dem Vorjahresquartal ist als dramatisch, quasi als epidemisch zu bezeichnen“, so Volker Nürnberg, Professor für Gesundheitsmanagement an der Konstanzer Allensbach-Hochschule. „Burnout ist die neue Pandemie! Bei vielen Mitarbeitern ist nicht nur der Akku leer, sondern das Ladekabel defekt.“ Das hat natürlich nicht nur mit Corona zu tun. Eine Impfung hilft da allerdings ohnehin nicht.
„How methodological pitfalls have created widespread misunderstanding about long Covid“:
dx.doi.org/10.1136/bmjebm-2023-112338
ARE-Wochenberichte des RKI:
influenza.rki.de/Wochenberichte.aspx
Meldeportal für Verdachtsfälle von Nebenwirkungen
Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie dauerte eine Impfstoffentwicklung in der Regel weit mehr als fünf Jahre. Vor den Tests an Menschen muß eine präklinische Testphase durchlaufen werden. In der ersten klinischen Testphase wird die Sicherheit und Verträglichkeit überprüft. In Phase zwei geht es um die Dosisfindung, in Phase drei um den Wirkungsnachweis – erst danach erfolgt die Zulassung. In der Phase vier, der Arzneimittelüberwachung, werden auch seltenere Nebenwirkungen erkannt. Beim Covid-19-Impfstoff von AstraZeneca waren das laut Paul-Ehrlich-Institut (PEI) Hirnvenenthrombosen, beim Janssen-Vakzin ungewöhnliche Blutgerinnsel und beim Novavax-Produkt Herzrasen (Tachykardie). Bei den neuartigen mRNA-Präparaten von Biotech/Pfizer und Moderna wurde über Fälle von Herzmuskelentzündung (Myokarditis) und Herzbeutelentzündung (Perikarditis) berichtet. Daher gibt es inzwischen beim PEI sogar ein spezielles „Covid-19-Impfstoff-Meldeformular“ für das Anzeigen von möglichen Nebenwirkungen. (fis)