Revolution von 1848/49. Christopher Clarks über tausendseitiges Epos, das die Geschichte der europäischen Revolutionen von 1848/49 in bisher nie dargebotener Komplexität erzählt, schließt mit Fotografien vom Protestmarsch französischer „Gelbwesten“ im Mai 2018 und dem „Freiheitskonvoi“ kanadischer LKW-Fahrer im Februar 2022. Sie schlagen die Brücke zurück zu epochalen Umwälzungen im 19. Jahrhundert, die dem 1960 geborenen Historiker während seiner Schulzeit so weit weg schienen wie das alte Ägypten. Doch die sich seit der Jahrtausendwende fortfressende „Polykrise“ der globalisierten Moderne verkürze nun diese Distanz, so daß sich die zerklüftete Vormärzepoche, in der sich die bis heute im Kern bewahrte „liberal-kapitalistische Ordnung“ des Westens herausbildete, für ihn nun als Spiegel der Gegenwart nutzen läßt. Folglich scheinen in jedem Kapitel dieses Monumentalwerks die über 175 Jahre hinweg reichenden Ähnlichkeiten politischer, sozialer und ökonomischer Großwetterlagen durch. Woraus Clark den beunruhigenden Schluß zieht, daß wir wieder in vorrevolutionären Zeiten leben. Und es sei äußerst unwahrscheinlich, daß unsere „Polykrise“ auf eine „nichtrevolutionäre Lösung“ zulaufen werde. (wm)
Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt.Deutsche Verlags-Anstalt, München 2023, gebunden, 1.164 Seiten, Abbildungen, 48 Euro
Russen in Ostpreußen. Nach der Katastrophe gegen Russen und Österreicher bei Kunersdorf nahe der Oder, wo Friedrich II. sich 1759 seiner Armee und seines Reiches verlustig sah, wollte er sogar in den Selbstmord flüchten („Es ist alles verloren. Retten Sie die königliche Familie. Adieu für immer“), bis ihn das „Mirakel des Hauses Brandenburg“ rettete, perfekt geworden durch den Regierungswechsel in Sankt Petersburg drei Jahre später. Seine ferne östliche Provinz zwischen Weichsel und Memel, deren Verteidigung Friedrich keine Priorität einräumen konnte oder wollte, stand zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Jahre unter der Herrschaft von Zarin Elisabeth, die sich das Land zwischen Haff und Moor gern als weitere Ostseeprovinz einverleiben wollte. Der Historiker Jörg Ulrich Stange hat diese Zeit nun aus ihrem wissenschaftlichen Dornröschenschlaf befreit und schildert die später fälschlich als „goldene Russenjahre“ bezeichnete Episode anhand der greifbaren Quellenlage. Diese fing 1757 mit der Besatzung der russischen Armee unter Feldmarschall Stephan Apraxin an, deren außer Rand und Band geratene Soldaten Ostpreußen fast genauso brandschatzend, mordend und vergewaltigend heimsuchten wie nach ihnen die Russen 1914 oder 1945. (bä)
Jörg Ulrich Stange: Ostpreußen unter der Zarenherrschaft 1757–1762. Rußlands preußische Provinz im Siebenjährigen Krieg. Lau Verlag, Reinbek 2023, gebunden, 491 Seiten, 38 Euro