© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/23 / 10. November 2023

Lynchaufrufe in der Zeitung
Ein staatsstreichartiger Pogrom weißer Suprematisten in Wilmington, North Carolina, am 11. November 1898 beschleunigte die Rassensegregation in den USA
Ludwig Witzani

Der Untergang des alten Südens im amerikanischen Bürgerkrieg ist oft erzählt worden. Weniger bekannt ist die Geschichte der nachfolgenden Jahrzehnte, in denen es der weißen Mehrheit gelang, die Ergebnisse des Bürgerkrieges zu großen Teilen zu korrigieren. Die afroamerikanische Bevölkerung kam dabei unter die Räder und sollte am Ende ihre politische Mitbestimmung verlieren.

Allerdings hatte es unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkrieges noch ganz anders ausgesehen. Durch den 13. und 14. Verfassungszusatz waren die Sklaven in den Südstaaten zu wahlberechtigten Bürgern der USA erklärt worden, und die Truppen der Nordstaaten, die den Süden besetzt hielten, sorgten dafür, daß dieses Wahlrecht auch ausgeübt werden konnte. Da zugleich ein großer Teil der weißen Südstaatler als ehemalige Soldaten der konföderierten Armee zeitweise vom Wahlrecht ausgeschlossen war, bildeten sich zahlreiche republikanische Regierungen, die sich auf die fast hundertprozentige Zustimmung der schwarzen Bevölkerung stützten. Radikale Angehörige der weißen Mehrheitsbevölkerung antworteten darauf mit der Gründung des Ku-Klux-Klans, der die schwarze Bevölkerung mit Lynchjustiz terrorisierte.  

In dem Maße, in dem die Wahlrechtseinschränkungen aufgehoben wurden, gewannen die Weißen  in den 1870er und 1880er Jahren allerdings Schritt für Schritt die Mehrheiten in den Parlamenten der Südstaaten zurück. Maßgeblicher Träger dieser Entwicklung war die demokratische Partei, die sich in ihrem Rassismus von keiner politischen Gruppierung überbieten ließ. Unter dem Motto „gleich, aber getrennt“ sorgten die Demokraten in den von ihnen regierten Bundesstaaten für rassisch separierte Eisenbahnwaggons, Toiletten und Schulen. Als verhängnisvoll erwies sich die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, der unter Verweis auf die einzelstaatliche Souveränität dergleichen Maßnahmen nicht verbot. 

Die Stadt Wilmington war ein Symbol der Rassenintegration

Es gab aber auch andere, gegenläufige Tendenzen. Zwischen der demokratischen Partei, der Partei der ehemaligen Sklavenhalter, und den Republikanern, der Partei des Nordens, entstand die „Peoples Party“. Sie vertrat angesichts schwerer Wirtschaftskrisen und hoher privater Verschuldung einen protektionistisch-sozialinterventionistischen Kurs, für den sie weder bei dden Demokraten noch bei den Republikanern Mehrheiten fand. Diese Partei wurde von verarmten Farmern gewählt, die  am Ausbau der Bürgerrechte für Schwarze nicht sonderlich interessiert waren, sich in strategischer Absicht auf eine Koalition mit den Republikanern einließen. So kam es am Anfang der 1890er Jahre in North Carolina zu Wahlbündnissen zwischen der „People’s Party“ und den Republikanern, was in den Wahlen zwischen 1892 bis 1896 zu progressiven Mehrheiten führte. Restriktive Abstimmungsregeln zuungunsten der Afroamerikaner wurden aufgehoben und Schwarze wurden sogar zu Richtern und Polizisten ernannt.  

Die Wahlen des Jahres 1898 sollten diese Sonderentwicklung beenden. Schon im Vorfeld der Wahlen rüstete die demokratische Parei zum Generalangriff auf die gemischtrassige Staatsregierung von North Carolina. Die Kampagne begann mit einer Artikelreihe über Korruption und Kriminalität der „Negerregierung“ im Raleigh. News and Observer. Die später hoch angesehene demokratische Abgeordnete Rebecca Ann Felton rief in ihren Artikeln unverblümt zur Lynchjustiz an afroamerikanischen Vergewaltigern auf, ohne daß sich bei ihren Anhänger irgendein Widerspruch erhob. Bevorzugtes Haßobjekt der weißen Suprematisten war Alexander Manly, der afroamerikanische Herausgeber des Daily Record, der zur grenzenlosen Empörung der Weißen in einer Gegendarstellung darauf hinwies, daß die Vergewaltigungsquote von Weißen an Schwarzen um ein Vielfaches höher sei als umgekehrt. 

In dieser aufgeheizten Stimmung zogen Anfang November 1898 die sogenannten Rothemden durch die Wahlbezirke der Schwarzen und drohten jedem mit Mord und Totschlag, der von seinem Wahlrecht Gebrauch machte. Am 8. November 1898, dem Wahltag, bewachten sie die Wahllokale und verwehrten afroamerikanischen Wählern den Zutritt. Die Anhänger der People’s Party schwenkten über zur demokratischen Partei. Kein Wunder, daß die Demokraten die Wahl gewannen und im Repräsentantenhaus von North Carolina wieder die Mehrheit stellten.

Was aber sollte mit den Stadtverwaltungen geschehen, die auf kommunaler Ebene auch nach dieser Wahl noch eine Weile im Amt bleiben würden? Alle Augen richteten sich auf die Stadt Wil-mington, dem Symbol der Rassenintegration. 56 Prozent aller Einwohner Wilmingtons waren Afroamerikaner, es existierte eine Reihe erfolgreicher schwarzer Unternehmungen, es gab Richter, Polizi-sten und Stadtverordnete, und die bereits erwähnte Zeitung Daily Record befand sich im Besitz einer schwarzen Familie.

Die Antwort darauf war ein Lehrstück in öffentlicher politischer Gewalt, wie es sie bis dahin in den USA noch nicht gegeben hatte. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1898 zog ein weißer Mob randalierend und plündernd durch die Straßen, um einem herbeiphantasierten „schwarzen Aufstand“ zuvorzukommen. Am Morgen des 10. November drangen die Rothemden in die Stadtver-waltung ein und zwangen alle Amtsträger, Weiße wie Schwarze, sofort zurückzutreten. Die Räume des Daily Herold wurden demoliert, und Alexander Manly konnte nur durch Flucht sein Leben retten. Schwarze Familien flohen aus der Stadt und versteckten sich in den Sümpfen, ehe die Afroamerikaner zu Tausenden die Stadt verließen. Am Ende der Woche war nicht nur die Machtergreifung der Weißen in Wilmington vollendet, durch die Massenflucht der Schwarzen hatten sich auch die demographischen Verhältnisse umgekehrt. Schätzungen über die Zahl der ermordeten Schwarzen schwanken zwischen 60 und 300 Toten. 

Rassenpolitik sorgte für Migration der Schwarzen in den Norden

Nun brach eine lange Zeit der Entrechtung über die afroamerikanische Bevölkerung herein, nicht nur in North Carolina, sondern auch in den anderen Staaten des Südens. Die Rassensegregation wurde weiter vorangetrieben, bald wurde auch das Wahlrecht der afroamerikanischen Bevölkerung durch die Einführung von Sprach- und Intelligenztests eingeschränkt. Die Lynchjustiz, deren Opferzahl im ganzen Süden in die Tausende ging, nahm erschreckende Ausmaße an.

Die Folgen dieser Politik sollten das ganze Land betreffen. Zu Hunderttausenden verließen die Afroamerikaner nach der Jahrhundertwende den Süden und wanderten in die großen Städte des Nordens der USA aus. Die „Great Migration“ von über sechs Millionen Menschen bis 1970 setzte ein und sorgte für die Ausweitung der ungeklärten Rassenfrage auf die ganze Nation.