© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/23 / 10. November 2023

An der Wiege Israels
Serie Bewegende Köpfe, Teil 1: Der britische Diplomat Arthur James Balfour formulierte 1917 ein neues Konzept des Nahen Ostens
Rainer F. Schmidt

Er war der Neffe des Regierungschefs und dessen designierter Erbe. Aus reicher und vornehmer Familie, ein Künstler des Debattierens, das Idol der hauptstädtischen Gesellschaft und der Musterknabe seiner Partei: der britischen Tories. Dazu gesegnet mit einem blendenden Aussehen, das ihn zum Schwarm der Damenwelt machte: 1,80 Meter groß, blaue Augen, gewelltes braunes Haar, ein Schnurrbart und gertenschlank. Seiner Aura von souveräner Lässigkeit und dem heiteren, bestrickenden Charme, der von ihm ausging, konnten sich auch seine politischen Gegner nicht entziehen. 

„Der beste Kopf, der sich in unserer Zeit mit Politik beschäftigt“, so lautete das einhellige Urteil seiner Zeitgenossen. Die Frauen lagen ihm zu Füßen, obschon er sein Leben lang Junggeselle blieb. „Mein Gott“, so seufzte eine bekannte Schönheit nach einem Besuch bei ihm, „welch ein Unterschied zwischen ihm und den anderen Männern“. Und später, nach etlichen Affären auch mit verheirateten Frauen, trösteten sich die Abgewiesenen damit, wie eine von ihnen betrübt feststellte, „daß er seine Kräfte in dieser Hinsicht vollkommen erschöpft hat“.

Statt mit Heiratsplänen  beschäftigte er sich als Verfasser zweier tiefgründiger philosophischer Werke lieber mit der Geistesgeschichte und der Politik, deren Arena er mit 26 Jahren betrat. „Prince Charming“, wie ihn die Londoner Presse bald taufte, wurde mit 39 Jahren Minister im Kabinett seines Onkels Lord Salisbury und vier Jahre später Parteiführer im Parlament. Dort hatten seine Reden, die er vollkommen frei und ohne Konzept hielt, den Effekt einer „Gewehrkugel, die auf eine Seifenblase“ trifft. In Scharen pilgerten sogar die Lords aus dem Oberhaus herüber, um ihn reden zu hören. Wie einer von ihnen festhielt, konnte man „den gesamten meisterlichen Vorgang des Denkens, Argumentierens und Formulierens mit einem derartig vollendeten Können und solch absoluter Leichtigkeit“ erleben, daß es „ein Vergnügen war, ihn bei der Ausführung dieser Kunst zu beobachten“.

1902 wurde er folgerichtig als Nachfolger seines Onkels zum Regierungschef berufen. Seine Partei hatte seit Jahrzehnten das Land regiert. Aber nun holten ihn die Versäumnisse der Vergangenheit ein, an denen zuerst seine Partei und dann seine Karriere zerbrachen. In den Berichten der vom König eingesetzten Kommission für Arbeitsfragen stand schwarz auf weiß zu lesen, daß das reichste Land der Erde auf einem Bevölkerungsfundament ruhte, von dem ein Drittel in chronischer Armut lebte, während es gleichzeitig viermal so viele superreiche Großgrundbesitzer gab wie anderswo. Darauf wußte er, außer funkelnden Formulierungen und brillanten Sottisen, mit denen er seine jungen, parteiinternen Gegenspieler überzog, keine politische Antwort. 

Dabei waren die Fakten, die ihn zum Handeln hätten zwingen müssen, erdrückend. Schlaf, Ernährung, sanitäre Anlagen und sogar die Atemluft waren im Land nicht ausreichend, um den elementarsten menschlichen Bedürfnissen zu genügen. In einem Bericht wurde ihm vorgerechnet, daß 25 Kubikmeter Luft pro Person überlebensnotwendig seien. Aber die Armenhäuser und Slums im Land boten nur acht Kubikmeter. Sie strotzten vor Krankheiten und Ungeziefer.  

Das alles warf die Frage nach dem Umbau und der Reform des Systems auf, der er sich hartnäckig verweigerte, bis es zu spät war. Seine Partei war heillos zerstritten, und die liberale Opposition siegte mit einem riesigen Erdrutsch, mit einer noch nie dagewesenen Mehrheit, so daß er sogar seinen Sitz im Parlament einbüßte. Das freilich focht ihn nicht an. Er spielte weiterhin Golf und Tennis, verschlang jeden Tag mehrere Bücher, die er sogar mit in die Badewanne schleppte. Oder er fuhr mit seinem Fahrrad bis zu 50 Kilometer durch die Gegend. 

Erst im Ersten Weltkrieg gelang ihm ein Comeback. Und was für eines. Als Außenminister trug er sich mit einer Deklaration in die Geschichtsbücher ein. Sie war die Geburtsstunde eines Staates, der noch heute in fast jeder Nachrichtensendung Erwähnung findet. Seine epochemachende Entscheidung ging auf eine Episode zurück, die heute so gut wie in Vergessenheit geraten ist. 

Damals, 1906, empfing er mitten im Wahlkampf im Queen’s Hotel am Londoner Piccadilly einen glühenden Zionisten: den in Rußland geborenen Chemieprofessor Chaim Weizmann. Für das Gespräch hatte er eine Viertelstunde vorgesehen. Es dauerte dann mehr als anderthalb Stunden, weil sich Weizmann vehement dagegen sträubte, Uganda statt Palästina als Heimstatt der Juden zu akzeptieren. Eine denkwürdige Szene, die Weizmann in seinen Memoiren von 1949 überliefert hat, ließ Balfour dann anderen Sinnes werden. „Ich schwitzte Blut und versuchte, mich weniger pathetisch auszudrücken“, so erinnerte sich der spätere Direktor der Munitionslabors der Königlich Britischen Admiralität und Präsident der Zionistischen Weltorganisation. „Plötzlich sagte ich: Stellen Sie sich vor, ich gäbe ihnen Paris anstelle von London. Würden Sie akzeptieren? Er richtete sich auf, sah mich an und antwortete: Aber Mr. Weizmann, wir haben London. Das stimmt, sagte ich. Aber wir hatten Jerusalem, als London noch ein Sumpf war.“

Die daraus hervorgehende „Balfour-Declaration“ vom 2. November 1917 war freilich ein trügerischer Sieg der Zionisten. Denn die Briten hatten im Weltkrieg den Nahen Osten gleich dreimal verteilt. In einem geheimen Briefwechsel hatte man im Sommer 1915 Hussein ibn Ali, dem letzten haschemitischen Herrscher über Mekka, die Schaffung eines großarabischen Reiches versprochen. Der britische Nachrichtenoffizier Thomas Edward Lawrence, berühmt geworden als „Lawrence von Arabien“, dem Peter O’Toole 1962 ein filmisches Denkmal setzte, verpfändete dafür sogar sein Ehrenwort. Tatsächlich wurden die Araber dann 1919 bei der Pariser Friedenskonferenz kalt und gnadenlos über den Löffel balbiert. Der Hintergrund für diesen „Verrat“, wie er noch heute in der arabischen Welt bezeichnet wird, war das „Sykes-Picot-Abkommen“ vom 16. Mai 1916. Mit diesem dubiosen Geheimvertrag sicherte man sich mit Blick auf die Erdöllager Jordanien, den Südirak, Ägypten und Palästina, während Frankreich den Nordirak, Syrien und den Libanon erhielt. Mit diesen sich überkreuzenden Zusicherungen schufen die Briten im Ersten Weltkrieg einen bis heute ungelösten Dauerkonflikt, der die gesamte Region im Nahen Osten zum Pulverfaß machte.






Prof. Dr. Rainer F. Schmidt lehrte Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichte der Universität Würzburg.