Da stehen sie nun, bibbernd in der Kälte. Seit 6 Uhr warten sie auf das ehemalige Teenie-Pop-Idol der 1990er Jahre: Gil Ofarim. Allerdings nicht um ein Autogramm zu erhaschen, sondern um einen Sitzplatz im Saal 115 des Landgerichts Leipzig zu ergattern. Denn hier ist der Sänger angeklagt. Es geht nur vorrangig um Verleumdung oder um falsche Eidesstattliche Erklärungen und Betrug. Vielmehr geht es um ein deutsches Drama, ein Trauma. Nämlich um unsere Reflexe, sobald der Vorwurf des Antisemitismus erhoben wird.
Eine Stunde vor Verhandlungsstart beginnen die Justizwachtmeister mit den Personenkontrollen. Alle Metallteile abnehmen, Schmuck, Gürtel, Uhren, Brillen. Dann Taschenkontrollen. Eine Schleuse steht am Eingangsbereich des Gerichts, die zweite direkt vor dem Saal 115. Nochmals Personen- und Taschenkontrollen auf Waffen. Es herrscht Ausweispflicht. 45 Plätze für Journalisten sind reserviert, 45 Plätze für die Zuschauer. Ab zehn Minuten vor Verhandlungstermin dürfen Foto- und Filmaufnahmen gemacht werden, bis zum Eintritt des Gerichts.
„Ich weiß, was mir passiert ist. Es ging mir nicht um den Mitarbeiter, sondern um Antisemitismus“, zitierte die Welt am Sonntag den Sänger drei Tage vor Prozeßbeginn. Der Staatsanwalt sieht das allerdings etwas anders. Dem 41jährigen Gil Doron Reichstadt, so der richtige Name von Gil Ofarim, 1982 in München geboren, wirft er falsche Verdächtigung in zwei Fällen, davon in einem Fall mit Verleumdung vor. Dazu kommt falsche Versicherung an Eides Statt in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Betrug und in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem Betrug.
Rückblick: Am 4. September 2021 soll ihm, so schilderte es Ofarim in einem selbstgemachten Video auf Instagram, das er am folgenden Tag veröffentlichte, an der Rezeption eines Hotels in Leipzig folgendes widerfahren sein: „Ich bin sprachlos, ich weiß nicht wie ich es sagen soll“, sagt er in dem Video, um dann zu schildern, daß sich das Einchecken wegen Computerproblemen verzögert hätte. Andere Wartende seien ihm aber vorgezogen worden. Als er nach 15 Minuten an der Reihe gewesen sei, soll ein Mitarbeiter des Hotels, ein „Herr W.“, ihn aufgefordert haben, seinen Davidstern, der an einer langen Kette vor der Brust baumelte, einzupacken, dann dürfe er einchecken.
Zweifel nach Auswertung der Überwachungskameras
Nachdem das Video viral geht, überschlagen sich die Ereignisse. Vor dem Hotel gibt es mit 600 Empörten eine Spontandemo gegen Antisemitismus. „Wir solidarisieren uns mit allen Jüdinnen und Juden, denen das in Deutschland immer noch viel zu häufig passiert“, zitiert die Deutsche Presse-Agentur Irena Rudolph-Kokot, eine der Organisatoren. Auch Mitarbeiter des Hotels demonstrierten dort gegen Antisemitismus. Zahlreiche Politiker und Prominente solidarisieren sich mit dem Sänger, fordern in Interviews oder im Internet die Entlassung des Hotelangestellten, wie zum Beispiel der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster. Der damalige Außenminister Heiko Maas (SPD) ist „fassungslos“. Natürlich gibt es Boykottaufrufe. Der aus dem Fernsehen bekannte Hundetrainer Martin Rütter erklärt, daß er „auf Tour in dieses Hotel nicht einchecken würde“.
Das Hotel beurlaubt den Angestellten. Doch schon am folgenden Tag stellt eben dieser Angestellte Strafanzeige gegen Ofarim wegen Verleumdung. Am 7. Oktober beauftragt das Hotel eine Kanzlei damit, selbst zu recherchieren. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Eine weitere Anzeige gegen den Angestellten durch einen unbeteiligten Dritten trudelt bei der Staatsanwaltschaft ein. Am 8. Oktober entschuldigt sich die Muttergesellschaft des Hotels Westin, Mariott, bei Ofarim. Am 12. Oktober wiederholt Ofarim seine Äußerungen in einer Vernehmung bei der Polizei München und erstattet nun Anzeige gegen den Angestellten.
Ab dem 17. Oktober werden jedoch immer stärker Zweifel an der Schilderung Ofarims laut. Die Bilder der Überwachungskameras zeigen, daß ein Davidstern bei Ofarim nicht zu sehen war. Das berichten Bild am Sonntag, die Leipziger Volkszeitung, später Die Zeit. Im März 2022 dann der Paukenschlag, wie es die Welt nennt: Die Staatsanwaltschaft Leipzig stellt das Verfahren gegen den Hotelangestellten ein, stattdessen erhebt sie Anklage gegen Gil Ofarim wegen falscher Verdächtigungen und Verleumdungen. Sie klagt ihn vor dem Landgericht an; ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft.
Allein das ist schon aufsehenerregend, schließlich hätte die Staatsanwaltschaft auch vor dem Amtsgericht anklagen können. Damit wäre Ofarim im Falle einer Verurteilung die Berufung vor dem Landgericht möglich, inklusive einer neuen Beweisaufnahme. Dieser Weg ist ihm jetzt verwehrt. Er könnte nur noch in Revision gehen. Doch es kommt für Ofarim noch schlimmer. Er muß sich vor der großen Strafkammer des Landgerichts verantworten. Und das in Besetzung eines Schwurgerichts mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffenrichtern. „Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Leipziger Justiz hier einen Schauprozeß anstreben könnte, nicht ausschließbar aus politischen Gründen“, zitierte der Mitteldeutsche Rundfunk Ofarims Anwalt Alexander Stevens. Zehn Verhandlungstage hat das Gericht angesetzt.