Es war so kalt, daß selbst der Wind fror.“ Mit diesem Satz eröffnet Dirk Gieselmann sein Romandebut „Der Inselmann“: Es ist kurz vor Weihnachten. Hans und seine Eltern stehen am Ufer eines großen Sees, um sie herum die wenigen Habseligkeiten der Familie. Sie sind aufgebrochen, um ein neues Leben zu beginnen auf der einsamen Insel inmitten des Sees. Der Aufbruch ist kein optimistischer; vielmehr ist er eine Flucht vor der aktuellen Lebenswelt, die die Eltern inzwischen als unerträglich empfinden. Fort also auf die Insel, um weitab von der Zivilisation Schafe zu hüten.
Man könnte nun an eine Form des Eskapismus denken, an eine bukolische Weltflucht hin zu einer schöneren, da lediglich imaginierten Wirklichkeit. Fast wäre dies dem Kind sogar gelungen, wären da nicht die Eltern, die ihre sozialen Beschädigungen nicht ablegen können.
Zeit und Ort der Romanhandlung läßt Autor Gieselmann im Ungefähren: Tausende Menschen verlassen das Land, aus dem die Hoffnung gewichen ist – man befindet sich offenbar in der DDR der frühen sechziger Jahre. Es sind die dortigen Verhältnisse, denen die Eltern entkommen wollen, von denen sie jedoch bereits gebrochen wurden. Erschöpft und verhärmt sind sie nicht in der Lage, ihrem Sohn Zuwendung und Liebe zukommen zu lassen, denn ihnen fehlt die Möglichkeit zur Verständigung: Falls der Vater einmal spricht, dann so, als müsse er sich übergeben. Die Mutter hat nicht nur die richtigen Worte, sondern auch den richtigen Ton verloren. „Und nun sei auch du still“, sagen sie zu ihrem Sohn. „Psst, Junge, psst. Mach ja keinen Mucks.“
Auf der kleinen Insel findet der Junge sein Paradies
Und der zehnjährige Hans macht keinen Mucks, nimmt alles hin mit einem kindlichen Gleichmut und zugleich mit der Hoffnung auf Freiheit im Unbekannten. Auch ihm hat die Zivilisation nicht viel zu bieten außer dem engen „Verlies“ der Wohnung, verstörende Nachbarn und einen brutalen Fleischersohn. Auf der Insel aber findet Hans sein Paradies. Es sind nicht die Menschen, am wenigsten die Eltern, die ihn auf seinen Erkundungszügen in der neuen Welt begleiten. Vielmehr erkennt er in jedem Wesen, jedem Ding vom Stein bis zum Wind nur Freundlichkeit und Güte. Stets begleitet von seinem wahren Freund, dem Hütehund.
Doch die Vertreibung folgt auf dem Fuß: Hans schwänzt die Schule, und alsbald greift die Gesellschaft in Gestalt des Lehrers nach ihm – und zwar nicht mit Samthandschuhen. Hans wird in die „Burg“, eine Erziehungsanstalt, verbracht. Hier leben die Zöglinge wie Gefängnisinsassen bei harter körperlicher Arbeit und unzureichender Verpflegung unter einem gewalttätigen und korrupten Anstaltsleiter. Sinn der Übung ist es vor allem, die Individualität der Kinder zu brechen. Doch Hans macht wiederum kaum einen Mucks und übersteht auch das. Nach Jahren wird er, nun volljährig, entlassen. Sein Ziel ist die Rückkehr auf die Insel, weg von der Gesellschaft.
Im ersten Kapitel, das fast die Hälfte des Buches füllt, gelingt Dirk Gieselmann eine atmosphärisch dichte Schilderung der Welt aus der Perspektive des Kindes. Die folgenden Kapitel fallen weitaus kurzatmiger aus; eine Metapher möglicherweise dafür, daß Hans mehr und mehr die eigene Sprache und Kommunikationsfähigkeit verliert. Schuld daran ist der wilde Dschungel der Zivilisation. Er findet sich unter den Raubtieren auf dem Schulhof sowie unter Erwachsenen, die ihre Fürsorgepflicht verletzen; mithin in einer Gesellschaft voller Gewalt, Verrat und Dressur.
Sprache bildet einen Leitfaden, der sich durch das gesamte Buch zieht – insbesondere durch ihre Abwesenheit in der Interaktion der Figuren. Der Autor selbst bedient sich eines legendenhaften, bisweilen fast mystischen Tonfalls, dann und wann gebrochen durch ein humoriges Aufmerken. Dabei gelingen Gieselmann einige schöne, auch tiefgründige Beobachtungen, doch nicht selten gleiten die Sätze ins Prätentiöse ab: Dann friert der Wind und die Wände sind „mit Trauer gekachelt“. Prätentiös wirkt auch der Wal, der in der Geschichte nicht im Wortsinne auftaucht, sondern vielmehr seiner einsamen Wege zieht; unerkannt von seinen Artgenossen, da er in der falschen Tonlage singt. Und so ist er „der erste und der letzte seiner Art: der einsamste Wal der Welt“. Das ganze Buch ist bestimmt von diesem melancholischen Grundton, der leider durchzogen ist von einem Heischen nach Betroffenheit.
Möglicherweise verarbeitet der Autor mit der Klage über das zwischenmenschliche Unverständnis eigene Erfahrungen. Dirk Gieselmann, 1978 im niedersächsischen Diepholz geboren, hatte als freier Journalist zahlreiche Artikel in der Zeit, dem Spiegel sowie dem Tagesspiegel veröffentlicht und wurde mit dem Henri-Nannen- sowie dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. Bis das Magazin der Süddeutschen Zeitung ihn 2019 beim Fälschen ertappte: Gieselmann hatte nach Darstellung der Redaktion – ähnlich dem Fall Claas Relotius – eine Protagonistin erfunden. Nun ist das Fabulieren für einen Journalisten unrühmlich, für einen Autor fiktionaler Geschichten jedoch keineswegs. Ganz im Gegenteil sogar, möchte man meinen. Es überrascht daher, daß Gieselmann in einem Interview mit RBB online darauf verweist, daß sein Roman sachkundig auf die Korrektheit der Fakten hin gegengelesen worden sei. Selbst der Inselmann existiere wirklich, er habe ihn kennengelernt und er sei dem Autor zur Inspirationsquelle geworden. Es wirkt, wie so oft dieser Tage, als seien auch im Falle des Romans die Unterscheidungen zwischen Realität und Fiktion zumindest unscharf geworden. Darüber hinaus habe der frühere Journalist als Romanautor nach einer elementaren, phrasenfreien Sprache gesucht, die nicht „wie ein zu oft getragener Mantel“ wirke. Eine Suche, die nur teilweise erfolgreich war.
Flucht vor einer Gesellschaft, die in vorgegebene Masken zwängt
In jedem Fall aber scheint „Der Inselmann“ einen aktuellen Nerv getroffen zu haben. Der Roman beschreibt die Sehnsucht nach Einsamkeit und Flucht vor einer Gesellschaft, die den Einzelnen in vorgegebene Masken zwängt. „Alles, was ich bin, läßt sich aus meiner Herkunft erklären,“ faßt es der französische Soziologe und Philosoph Didier Eribon. Es sei die Gesellschaft, die dem Individuum in seiner persönlichen Entwicklung immer wieder Grenzen setze und es in eine hierarchische Ordnung zwinge. Dies traf auf den Überwachungsstaat im real existierenden Sozialismus, in dem der „Inselmann“ ja beheimatet ist, gewiß zu. Ebenso trifft es zu auf eine Gesellschaft, die sich den Grenzsetzungen und hierarchischen Ordnungen der aktuellen Welt unterwirft – und sei es auch nur durch eine selbst gewählte Beobachtung durch die sozialen Medien oder durch das klaglose Beschreiten vorgegebener Meinungskorridore.
Die Gemeinschaft brauche die Einsamkeit, heißt es im Roman: „Sie ist auf der anderen Seite und zugleich auf derselben, als Mahnung und Angst vorm Verlust.“ Ein etwas enigmatischer Satz, in dem Einsamkeit nur als Abkehr vom Unverständnis der Welt, als Flucht nach innen möglich scheint. Mithin als Verzicht auf gesellschaftliche und freundschaftliche Bindungen. Damit stellt sich die Frage: Kann das Individuum unbeschadet die ihm vorgegebenen Masken ablegen, ohne zur Einsamkeit verdammt zu werden? Die Melancholie des Buchs „Der Inselmann“ scheint dies mit Bedauern zu verneinen.
So läßt das Buch den Leser ein wenig ratlos zurück. Es verursacht ein wohliges Erschauern über eine Figur, die durch seelische und körperliche Grausamkeiten einer stets beobachtenden und wertenden Gesellschaft aus der Gemeinschaft gedrängt wird, da sie – wie der Wal – in der falschen Tonlage singt, mithin von den Artgenossen nicht verstanden, nicht erkannt wird. Dieses Lied können in den vergangenen Jahren allerdings zahlreiche Mitmenschen in unterschiedlichen Varianten singen. Denn sie wählten Auseinandersetzung statt Flucht.
Dirk Gieselmann: Der Inselmann. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, gebunden, 176 Seiten, 20 Euro