© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/23 / 10. November 2023

Reflexionsfähigkeit trainieren und Horizont erweitern
Fächerübergreifendes Lernen
(wm)

Die kurze Hymne „Harzreise im Winter“, in der Johann Wolfgang von Goethe das Erlebnis seiner Wanderung zum Brocken im Dezember 1777 künstlerisch verarbeitet, gilt als „einer der schwierigsten Texte“ des Dichters (Albrecht Schöne, 1982). Trotzdem wählt ihn die Literaturdidaktikerin Jennifer Witte (Uni Osnabrück) aus, um daran ihre „Überlegungen zum fächerübergreifenden Lernen zwischen dem Deutsch- und Erdkundeunterricht“ zu entfalten (Wirkendes Wort, 2/2023). Denn Ziel solchen vernetzten Lernens solle keine philologische Neudeutung der „Harzreise“ sein, sondern die überfällige Umsetzung eines Beschlusses der Kultusministerkonferenz (KMK) von 1972. Demnach  sei es besonders der in der gymnasialen Oberstufe zu erprobende, hohe Anforderungen stellende fächerverbindende Unterricht, der einerseits die Argumentations- und Reflexionsfähigkeit der Schüler trainiere, andererseits ihnen den Zugang zu so verschiedenen Weltsichten wie poetischer Naturempfindung und geowissenschaftlich angeleiteter Naturbeschreibung eröffne. Daraus könne ein umfassenderes Verständnis der Wirklichkeit resultieren. Die vermeintliche Normalität nur einer Fachperspektive lasse sich daher im Sinne von Bertolt Brechts „Verfremdungseffekt“ hinterfragen und führe sowohl zu bewußterer Wahrnehmung von Gegenständen wie auch zu ihrer Einordnung in komplexere Zusammenhänge unserer Lebenswirklichkeit. Was Witte im Rückgriff auf die KMK von 1972 als fächerübergreifende Weltaneignung empfiehlt, ist nichts anderes als Wilhelm von Humboldts Primat der Allgemeinbildung, den allerdings die Bologna-Reform beseitigt hat. 


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