Der Angriff der palästinensisch-islamistischen Kämpfer von Hamas (Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden) und des vom Iran unterstützten Islamischen Dschihad in Palästina (al-Jihad al-Islami) gegen die israelischen Militärposten und gegen die Zivilbevölkerung entlang der Grenzen des Gazastreifens im südlichen Israel wäre eine Routine-Aktion im Rahmen der unendlichen Runden des Gewaltaustausches, wenn die dramatischen Ereignisse nicht in einem solchen Ausmaß stattgefunden hätten. Die Terroristen töteten israelische Zivilisten und die dort anwesenden Ausländer wahllos und nahmen bei dem Abzug Zivilisten als Geiseln mit.
Daß die islamistischen Gewalttäter überhaupt zu so einem Angriff fähig waren, ist selbst für die israelischen Kriegsstrategen nicht vorstellbar gewesen. Vorstellbar war allerdings die Entschlossenheit der Hamas (Islamische Widerstandsbewegung) und des Dschihad, die Juden gemäß der Charta der Hamas zu eliminieren. Die religiöse Legitimation liefert der Koran expressis verbis in vielen Stellen. Es gab aber andere Wege, um die Verpflichtung zu einem permanenten Krieg gegen den „zionistischen Feind“ zu mildern. So schloß die Hamas, die in Gaza seit 2007 die tonangebende Kraft ist, im Juni 2008 einen Waffenstillstand (Hudna) mit Israel – und dieser wurde praktisch nach jedem Gewaltaustausch erneuert.
Die Ereignisse und die gesamte Situation haben sich vor dem Angriff vom 7. Oktober teilweise fundamental verändert. Sowohl die Hamas als auch al-Jihad al-Islami waren und sind eine wichtige Kraft in der Achse des Widerstands und der Verweigerung. Der Iran ist der Initiator und der Hauptakteur in der Achse, die auch Syrien, die Huthi im Jemen, die schiitischen Milizen des Irak (al-Hashd al-Shabi) und vor allem die Hisbollah des Libanon umfaßt.
Der Iran und die Hisbollah haben dafür gesorgt, daß Tausende von Raketen und andere Waffengattungen in den Libanon gelangten. Die islamistischen Extremisten verfügten auch über erhebliche finanzielle Mittel, so daß sie beim unterirdischen Tunnelbau fast das gesamte Gaza-Gebiet vernetzten. Die Hamas und ihre Verbündeten waren in der Lage, im Gazastreifen durch gezielte Terroraktionen die verfahrene Situation im palästinensisch-israelischen Konflikt in Bewegung zu bringen. Zum einen wollte die Hamas Druck auf die Regierung Netanjahu erhöhen. In den vergangenen Monaten brachten die radikalen Kräfte im Westjordanland durch Demonstrationen und gewaltsame Aktionen die israelische Regierung in Bedrängnis.
Ein permanenter Heiliger Krieg bis zur „Befreiung“ Palästinas
Am 3. Juli 2023 führte das israelische Militär einen Großangriff in der palästinensischen Stadt Dschenin im israelisch besetzten Westjordanland durch. Jerusalem versicherte, daß das Ziel der „Operation Haus und Garten“ nur darin bestehe, militante Kämpfer innerhalb des Lagers zu bekämpfen. Nach der Aktion blieben die Spannungen und die Möglichkeit einer neuen Intifada allgegenwärtig.
Die Akteure der Achse der Verweigerung, vor allem der Iran und die Hisbollah, scheinen durch eine größere Aktion den Normalisierungsprozeß der Golfstaaten und vor allem Saudi-Arabien mit den USA zum Scheitern zu bringen. Dem Iran war es klar gewesen, daß US-Präsident Joe Biden, anders als sein Vorgänger Donald Trump, dem Normalisierungsprozeß keine große Relevanz in seiner Nahostpolitik einräumte. Auch der Konflikt mit dem Iran über das iranische Atomprogramm geriet in den vergangenen zwei Jahren in den Hintergrund. Die Freigabe der iranischen Milliarden, die seit über 40 Jahren durch die USA eingefroren waren, zeigte kein sehr positives Ergebnis.
Die Biden-Administration wurde nur im Zusammenhang mit den bekannten Sticheleien gegen die amerikanische Präsenz durch die pro-iranischen Milizen in Syrien, im Irak und entlang der irakisch-syrischen Grenze aktiv. Kurz vor dem Hamas-Angriff gegen Israel intensivierten die pro-iranischen Milizen im Irak die Anschläge gegen die Präsenz der USA im Irak. Es wurde sogar gefordert, daß die USA ihre Botschaft in Bagdad schließen sollten. Der Angriff der Hamas und ihrer Verbündeten war funktional im Sinne Irans. Als der Krieg ausbrach, beteiligten sich zur Überraschung der arabischen Öffentlichkeit die Verbündeten des Irans nicht. Wie die weitere Entwicklung des Krieges offenbarte, wollten weder der Iran noch die Hisbollah massiv in das Geschehen eingreifen. In diesem Fall wäre ein Eingreifen der USA unvermeidbar gewesen. Eine solche Eskalation wäre wahrscheinlich vom Iran weder geplant noch gewollt.
Die Maxime, daß Kriege ihre Eigendynamik entwickeln, stimmt auch in diesem Fall. Die Hamas griff am 7. Oktober auf die Methode des asymmetrischen Krieges zurück. Sie nutzte ihr Tunnel-System sowohl bei dem Angriff vom 7. Oktober als auch nach dem Beginn des israelischen Gegenangriffs. Und nicht zuletzt nutzte die Hamas Praktiken, die sie und die Hisbollah immer wieder in ihren Kriegen einsetzen, nämlich den Mißbrauch von Schulen, Krankenhäusern sowie Moscheen als Waffenlager und Basis für Raketen. Der amerikanische Philosoph und Politikwissenschaftler Michael Walzer hat nicht unrecht, wenn er solche Einrichtungen in diesem Fall als legitimes Ziel für eine militärische Operation der israelischen Armee ansieht.
Doch die Aussage von Clausewitz, daß der Krieg eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, verliert angesichts der Tatsache, daß die Hamas und al-Jihad al-Islami die Verhandlungen mit Israel nur führen, wenn es sich um Waffenstillstand handelt, an Bedeutung. Denn der Artikel 13 der Charta der Hamas sieht keinen Sinn in den Friedensinitiativen und Verhandlungen mit Israel, weil diese sich auf einen Teil des Territoriums Palästinas beziehen. Palästina als Ganzes sei eine islamische religiöse Stiftung, die nicht geteilt, veräußert oder verschenkt werden dürfe (Artikel 11 der Charta): „Artikel 11: Die Islamische Widerstandsbewegung glaubt, daß Palästina allen Generationen der Muslime bis zum Tag des Jüngsten Gerichts als islamisches Waqf-Land vermacht ist. Palästina darf weder als Ganzes noch in Teilen aufgegeben werden. Es gehört weder einem arabischen Staat noch allen arabischen Staaten, weder einem König oder Präsidenten noch allen Königen und Präsidenten, weder einer Organisation noch allen Organisationen, ganz gleich, ob es sich dabei um eine palästinensische oder arabische Organisation handelt, denn Palästina ist den Generationen der Muslime bis zum Tag des Jüngsten Gerichts gegeben.“
Es bleibt der permanente Heilige Krieg bis zur Befreiung Palästinas vom Jordan-Fluß bis zum Meer. Der Befehlshaber der Quds (Jerusalem)- Brigaden der iranischen Revolutionsgarde Ismail Qaani empfahl bereits im September 2023 den israelischen Bürgern ihre Häuser zu verkaufen, solange diese noch einen Wert haben, und das Land zu verlassen. Diese Äußerung stimmt mit den Inhalten der Charta von Hamas genau überein. Die Hamas strebt keine Zwei-Staaten-Lösung an, weil das Territorium Palästina ihrer Ansicht nach den Muslimen gehört.
Die Hamas liegt auch über Kreuz mit Syriens Machthaber Assad
Die Hamas differiert hier sogar mit der offiziellen Position des Verbündeten Syrien. Syrien strebte auch nach dem Tode Hafiz al-Assads einen Friedensvertrag mit Israel an, und dies ist immer noch die offizielle Position der Arabischen Liga, die nach dem Prinzip Land gegen Frieden handelt. Die Hamas, wie alle extremen islamistischen Militanten, fühlt sich den Grundsetzen ihrer islamistischen Ideologie verpflichtet. Der permanente Dschihad soll fortgeführt werden, bis die Juden aus dem „Haus des Islam“ vertrieben sind. Der berühmte Scheich der Muslimbruderschaft Yusuf al-Qaradawi legitimierte in einem Gutachten (Fatwa) die Tötung aller Juden in Israel. Er macht keinen Unterschied zwischen den Kombattanten und Nichtkombattanten.
Daß die Hamas bei dem Angriff vom 7. Oktober den Terrorkrieg gegen die Zivilisten praktizierte, gehört zum Arsenal der psychologischen Demoralisierung. Tatsächlich hat der Angriff gefährliche Auswirkungen auf die militärische Doktrin Israels, die in drei Begriffen zum Ausdruck gebracht werden kann: Abschreckung, Initiativergreifung und letztendlich ein rascher und vernichtender Sieg gegen den Feind. Abgesehen von der Maxime „Israel darf keinen Krieg verlieren,“ zeigte der Angriff der Hamas, daß die israelische Abschreckung ihre Wirkung, wenn auch nur zum Teil, verloren hat. Was wäre, wenn synchron die anderen Verbündeten in der Verweigerungsachse Israel angegriffen hätten?
Von Israel wurde aus bisher unbekannten Gründen kein präventiver Krieg gegen die Hamas geführt. Wahrscheinlich, weil die Kollateralenschäden an der palästinensischen Bevölkerung in einem derart dichten besiedelten Landstreifen für die USA und für andere befreundete Mächte unannehmbar sind. Nicht zuletzt kann Israel auch keinen vernichtenden Krieg gegen die Hamas im besonderen und gegen die Palästinenser im allgemeinen führen. Ein Krieg à la Saddam Hussein von 1988 gegen die Kurden ist weder planbar noch durchführbar, weil Israel seine moralische Legitimation verlieren würde. Israel hat ein schwerwiegendes Problem, was die Regeln der Kriegsführung anbetrifft. Die militärischen Strukturen der Hamas können nicht bestehen bleiben. Das ist keine einfache Aufgabe. Israel muß seine politische und militärische Doktrin und seine Überzeugungen überprüfen. Eine dauerhafte Zwei-Staaten-Lösung könnte ein Weg zum Frieden sein – eine Sisyphusarbeit. Dies könntemit der Zurückdrängung der Hegemonie des Iran realisiert werden. Die Hauptgefahr für die Region des Mittleren Orients, für Israel und für den Westen wird allerdings nach wie vor die Atommacht Iran sein.
Prof. Dr. Ferhad Seyder, Politikwissenschaftler, lehrte in Berlin, Potsdam, Bremen, Konstanz, Stockholm, Amman und Kairo. Von 2012 bis 2019 war er Leiter der „Mustafa Barzani Arbeitsstelle für Kurdische Studien“ an der Universität Erfurt.
Geschichte der Hamas
Die Hamas (Islamische Widerstandsbewegung) wurde Ende 1987 zu Beginn der ersten palästinensischen Intifada von Mitgliedern der Muslimbruderschaft und religiösen Gruppen der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) gegründet. Die Organisationsstruktur der Hamas gliedert sich in den militärischen Flügel – die Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden – und den politischen Flügel, das Politische Büro. Dessen Mitglieder werden vom Schura-Rat, von dem nur wenige Mitglieder bekannt sind, gewählt. Nach Angaben des Onlinemagazins Al-Monitor hat das Politbüro keine Befugnisse gegenüber dem militärischen Flügel. Der Schura-Rat beaufsichtigt die Arbeit des politischen und des militärischen Flügels. Hamas lehnte den säkularen Ansatz der PLO im israelisch-palästinensischen Konflikt ab, verurteilte deren Billigung der Zwei-Nationen-Lösung und deren Anerkennung des Existenzrechts Israels. In ihrer Charta von 1988 vertrat die Hamas die Auffassung, daß Palästina ein islamisches Heimatland sei, das niemals an Nicht-Muslime abgetreten werden dürfe, und daß es eine religiöse Pflicht der palästinensischen Muslime sei, einen heiligen Krieg zu führen, um Israel die Kontrolle über Palästina zu entreißen. Die Gruppe lehnte das Friedensabkommen zwischen Israel und der PLO von 1993 ab. Bei der Wahl im Januar 2006 erhielt die Hamas im Gazastreifen cirka 44 Prozent der Stimmen und die absolute Mehrheit der Mandate. (ctw)