© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 46/23 / 10. November 2023

„Lange nicht geschafft, das Unrecht auszusprechen“
DDR-Vergangenheit: In einem Gottesdienst für Opfer der kommunistischen Diktatur räumt die Evangelische Kirche ihr eigenes Versagen ein
Jörg Kürschner

Diese Entschuldigung der evangelischen Kirche war fällig. Überfällig. In kaum vorstellbarem Ausmaß hat der DDR-Gefängnisseelsorger Eckart Giebeler sein Beichtgeheimnis gebrochen und dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) über seine etwa tausend Gespräche mit den Häftlingen berichtet. Viele Akten wurden nach dem Mauerfall vernichtet, doch sind fast 300 Treffen des 2006 verstorbenen Spitzels belegt, der lange – bis 1992 – von der Leitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) gedeckt worden war. 1983 war Giebeler sogar als Pfarrer ordiniert worden, ungeachtet der Anzeige eines freigekauften Häftlings bei der Zentralen Erfassungsstelle für DDR-Verbrechen in Salzgitter zwei Jahre zuvor.

Doch Giebeler hatte prominente Fürsprecher wie Altbischof Gottfried Forck oder den damaligen Ostberliner Bischof Albrecht Schönherr. Erst 2013 konnte sich die EKBO zu dem Eingeständnis durchringen, daß ihr Glaubensbruder für die Stasi gearbeitet hatte. Es sollte weitere zehn Jahre dauern, bis die Kirchenleitung ihr Versagen öffentlich eingeräumt hat. Am vergangenen Sonntag bat sie die Leidensgenossen zu einem Gottesdienst in der Marienkirche am Berliner Alexanderplatz. Auf deren Anregung wurde eine offizielle Erklärung zu Gieseler verlesen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. 

Vor knapp 200 Teilnehmern bekannte Bischof Christian Stäblein, die Warnungen vor Gieseler seien in der Kirche auf „verstopfte Ohren“ gestoßen. „Wir wissen es schon lange, haben es lange nicht geschafft, das Unrecht auszusprechen“. In seiner Predigt wandte er sich gegen „Floskeln und Herumschwurbeln“ angesichts des „zutiefst erschreckenden Vertrauensbruchs“, der für viele Häftlinge mit erheblichen Nachteilen verbunden war. „Ich könnte Beifall klatschen“, meinte nach den einfühlsamen Worten des Bischofs Hartmut Richter, der 33 Menschen zur Flucht aus der DDR verhalf und dafür mit fünf Jahren Zuchthaus büßen mußte.

Landesbischof kritisiert frühere Kirchenleitung deutlich

In der Tat war die Kirche trotz der Häftlingsberichte nie gegen Gieseler tätig geworden, der seine 40jährige Stasi-Tätigkeit bis zu seinem Tod bestritten hat. Stäblein sprach von einem „eklatanten Mangel an Verantwortungsübernahme“. Deutlicher kann eine Kritik an der früheren Kirchenleitung kaum ausfallen. Diese hatte ihr Nichtstun bis 1992 formal damit begründet, daß Bruder Giebeler, viele Jahre einziger Gefängnisseelsorger in der DDR, Angestellter des Innenministeriums war.

Entscheidenden Anteil an der kirchlichen Schuld-erklärung – Stäblein würdigte dies ausdrücklich – hat die Pfarrerin Marie Anne Subklew-Jeutner, die 2019 in ihrem Buch „Schattenspiel“ Verrat und Schuld des „IM Roland“ aufgedeckt hat. Die Autorin konnte den sonntäglichen Gottesdienst als späte Würdigung ihrer verdienstvollen Arbeit begreifen, wie auch die ebenfalls anwesende Maria Nooke, Brandenburgs Aufarbeitungsbeauftragte, die das Gespräch mit der Kirche vermittelt hatte. Auch Markus Meckel, Kurzzeit-DDR-Außenminister nach dem Ende der SED-Diktatur, die den Pfarrer mehrfach zu diskreditieren versuchte, schien nach dem Gottesdienst zufrieden. Der ging mit dem Lied „Verleih uns Frieden“ zu Ende.