© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/23 / 03. November 2023

Kabinenklatsch
Laßt Braathen in Ruhe
Ronald Berthold

Zuletzt sorgte der Rücktritt des norwegischen Skistars Lucas Braathen für Aufsehen. Der Sportler ist erst 23 Jahre alt und hatte allen Experten zufolge eine große Karriere vor sich. Die Meldung ist erst einmal an mir vorbeigerauscht. Aber dann habe ich mich mit dem Norweger etwas näher beschäftigt. Und ich bekam Mitleid, denn die Geschichte, die hinter dem Rücktritt steckt, hat mich ergriffen. Nicht, weil er weinte, als er erklärte, aus dem Skizirkus auszusteigen.

Braathen kam in Oslo zur Welt. Als er drei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern – und das Kind zog mit seiner brasilianischen Mutter nach Brasilien. Später kam er zum Vater, der von Skigebiet zu Skigebiet zog. Insgesamt 21mal mußte der Junge umziehen. Freundschaften zu schließen, Geborgenheit in einem Zuhause zu finden, ist da unmöglich. Was für eine traurige Kindheit. Er suchte später Halt bei Musikern und Künstlern. Zuletzt lackierte er sich die Fingernägel, zog sich eher weiblich an. Dafür mobbten ihn andere im Skisport als „schwul“, sagt er.

Ich sehe in seinem Outfit, seinem verzweifelten Versuch, endlich anzukommen, einen Hilfeschrei, eine starke Sehnsucht nach eigener Identität. Warum läßt man ihn nicht einfach, wie er momentan ist oder sein will? Warum respektiert man nicht vielmehr seine fulminanten Leistungen? Jeder, der von der Norm abweicht, hat es schwer. Im Journalismus sind es die Konservativen, im Skisport offenbar die bunten Vögel. Daß ich hier schon mehrfach gegen den Regenbogen-Wahn im Fußball angeschrieben habe, hat mit dem Fall Braathen nichts zu tun. Im Gegenteil: Jeder soll sein, wie er ist – ohne Druck, sich zu irgend etwas bekennen zu müssen.