© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/23 / 03. November 2023

Freie Heilberufe senden SOS
Verbände der Ärzte, Zahnärzte und Apotheker warnen vor weiterer Verschlechterung der wohnortnahen Versorgung
Jörg Schierholz

Das gab es bislang noch nie: In der Berliner Bundespressekonferenz riefen die Vertreter der freien Heilberufe den Bundeskanzler höchstpersönlich zum schnellen Handeln auf – gegen die Mißstände im Gesundheitswesen und gegen die Pläne seines eigenen Ministers und SPD-Parteifreundes. Andreas Gassen (Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung/KBV), Martin Hendges (Chef der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung/KZBV) und Gabriele Regina Overwiening (Präsidentin des Apothekerverbands ABDA) warnten vor der weiteren Verschlechterung der flächendeckenden und wohnortnahen Versorgung für die Patienten – sowie einem Praxenkollaps und Apothekensterben.

„Wir erleben im Moment ein Ausmaß an Frust und Wut in ärztlichen, zahnärztlichen und psychotherapeutischen Praxen und in Apotheken, die wir so noch nicht erlebt haben“, erklärte der Düsseldorfer Unfallchirurg Gassen. Die Inflation und höhere Personalausgaben trieben die Praxiskosten in die Höhe. Viele könnten ihre Mitarbeiter kaum noch bezahlen, die weniger werdenden Fachkräfte wanderten in besser finanzierte Kliniken ab. Hinzu komme das überbordende Maß an Bürokratie und eine dysfunktionale Digitalisierung. Es klinge wie Hohn, wenn Karl Lauterbach behaupte, unter ihm gebe es keine Leistungskürzungen: „Tatsächlich läuft seine ganze Politik aber genau darauf hinaus, wenn er die ambulanten Strukturen mit selbstständigen Freiberuflern als Rückgrat der Versorgung zerstört.“

Im Schnitt 61 Praxistage im Jahr gehen rein für Bürokratie drauf

Olaf Scholz müsse endlich „auf die Bremse treten“, forderte Gassen. Es drohe die Vernachlässigung der präventiven Versorgung. Viele der niedergelassenen Kollegen müßten ihr Leistungsangebot einschränken. „Wir werden nicht tatenlos zuschauen wie ein System an die Wand gefahren wird“, so der KBV-Chef. Im Schnitt 61 Tage müsse eine Praxis im Jahr rein für Bürokratie aufbringen, aber aus dem Gesundheitsministerium komme nichts, um für Erleichterungen zu sorgen. Ein Beispiel sei die erzwungene Telematikinfrastruktur in den Praxen: Diese erhöhe deutlich die Wartungskosten für das interne Netzwerk, die Verfahrensabläufe beim Versenden an die Krankenkassen seien unglaublich komplex.

Die Mitarbeiter müßten immer wieder aufwendig geschult werden – und fehlten folglich für die Patienten. Bei Softwarefehlern sei die gesamte Praxis lahmgelegt, auch die Cybersicherheit sei mehr nicht gewährleistet. Ein Mehrnutzen für Praxis und Patienten sei hingegen nicht meßbar. „Die ambulante Gesundheitsversorgung fährt an die Wand. Teils aus Unkenntnis, teils aus Absicht. Vielleicht hätten Politiker Probleme damit, daß es um Freiberufler gehe und nicht um staatlich gelenkte Medizin, so Gassen. Junge Ärzte betrachteten die Niederlassung als „riskante Perspektive“. Viele Praxen würden daher nicht neu besetzt: Es entstehe ein Versorgungsdefizit, „das nicht mehr zu kompensieren ist“. Lauterbachs Pläne zu 1.000 „Gesundheitskiosken“ (niedrigschwellige Beratungsangebote durch eine „Gemeindeschwester 2.0“) seien keine Lösung. Der Minister reagiere jedoch „weder auf Bitten noch auf Zahlen oder Fakten“ und verweigere den „inhaltlichen Diskurs“.

Nur sechs Prozent der gesetzlichen Kassenausgaben flössen an die Zahnärzte. Dennoch wolle Lauterbach auch hier streichen. Doch die präventionsorientierte Therapie von Zahnfleischerkrankungen dürfe nicht der Budgetierung unterliegen, das hätte „verheerende Folgen“, warnte KZBV-Chef Hendges. Parodontitis sei eine komplexe Entzündung, die in direkter Wechselwirkung mit Diabetes mellitus stehe und Einfluß auf weitere schwere Allgemeinerkrankungen nehme. Mit Blick auf das von Lauterbach geplante Institut für Prävention betonte Hendges, es sei „nahezu verrückt“, dies neu zu gründen, aber gleichzeitig die Prävention in der Versorgung nicht zu bezahlen.

Die Spitzen von KBV, KZBV und ABDA sprachen sogar von einem „Kulturkampf“ und mutwilliger Gefährdung mittelständisch geprägter Strukturen der Gesundheitsversorgung. Auch die sich ausweitenden Arzneimittel-Lieferengpässe waren Schwerpunkte der Pressekonferenz. Die Pläne von Lauterbach zur „erleichterten Zulassung von Filialapotheken drohten zudem ein Zwei-Klassen-System mit Scheinapotheken zu schaffen“, erklärte ABDA-Chefin Overwiening. Denn dann dürften Apotheken auch ohne Apotheker, ohne Notdienst und Rezeptur betrieben werden: „Verstehen Sie, was gerade passiert: Der SPD-Minister plant den systematischen Wegfall von Leistungen.“

Vorwürfe der Ärzteschaft sind für Lauterbach „nicht nachvollziehbar“

Auch ein vermeintliches „Faktenblatt“ aus dem Lauterbach-Ministerium sorgte für Empörung in der Apothekerschaft – die Realität sei aber eine andere: „Trotz steigender Kosten wurde unsere Vergütung seit elf Jahren nicht angepaßt. Infolgedessen befindet sich die Apothekenzahl im Sinkflug“, so Overwiening, die selbst eine Apotheke in Reken im Münsterland leitet. Die Bundesregierung müsse daher das flächendeckende Apothekennetz „schnellstmöglich stabilisieren. Auch die Protestaktion „Praxis in Not“ des Verbands medizinischer Fachberufe (VMF) wurde mit einem „Faktenblatt“ begleitet – mit dem Tenor: die Vorwürfe der Ärzteschaft seien „nicht nachvollziehbar“.

Lauterbachs kreative Ideen kommen bei den Beteiligten nicht gut an. Und haben wir im Winter erneut wieder keine Antibiotika und Hustensäfte für Kinder mehr? Auch um die stationäre Versorgung steht es nicht gut. Werden die Insolvenzen von Krankenhäusern ignoriert? Keines der offensichtlichen Probleme wird gelöst. Der Eindruck einer sich anbahnenden Mängelwirtschaft verdichtet sich.





Praxenkollaps – Petition zur ambulanten Versorgung

Sechs Millionen Beschäftigte zählt das deutsche Gesundheitswesen. 731.000 von ihnen sind in den niedergelassenen Arztpraxen tätig, und die kommen jährlich auf fast 580 Millionen Behandlungsfälle. „Doch die flächendeckende, wohnortnahe und qualitativ hochwertige ambulante Versorgung in Deutschland stehe auf dem Spiel – die Praxen stehen vor dem Kollaps“, warnt die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Deshalb wurde im Oktober eine Petition mit sieben Punkten beim Bundestag mit dem Ziel gestartet, „die Politiker für die Probleme der ambulanten Versorgung zu sensibilisieren“. Nötig sei unter anderem eine tragfähige Finanzierung: „Kostensteigerungen und Inflation müssen unmittelbar berücksichtigt werden.“ Die Budgets müßten daher weg. Mehr ambulante statt stationärer Operationen dämpften hingegen die Kosten und entlasteten die Krankenhäuser. Die Digitalisierung dürfe nicht zu Lasten der Versorgung gehen. Die Medizin müsse im Vordergrund stehen und nicht der „Papierkram“, fordert die KBV. (fis)


 www.praxenkollaps.info