Aus Freiwilligen gebildeten militärischen Verbänden, sogenannten Freikorps, verdankt die erste deutsche Demokratie ihr Überleben. Zwischen dem Herbst 1918 und dem Frühjahr 1920 waren es diese allein noch kampfwilligen und kampfkräftigen Einheiten gewesen, die das Absinken der am 9. November 1918 ausgerufenen Deutschen Republik in Chaos und Anarchie verhinderten.
Erst die Freikorps, so bilanziert der Historiker René Hoffmann den Ertrag seiner zweibändigen Darstellung ihrer kurzen Geschichte, hätten es ermöglicht, aus allgegenwärtiger Unsicherheit heraus, die auf Kriegsniederlage und Sturz der Hohenzollernmonarchie folgten, einen neuen Staat aufzubauen und ihn gegen alle Erwartung zu stabilisieren.
Dank der Einsatzbereitschaft der Freikorpssoldaten konnte die sozialistische Regierung der „Volksbeauftragten“ die ersten Monate im Amt überstehen und Wahlen zur verfassungsgebenden Weimarer Nationalversammlung organisieren. Was ohne die Niederschlagung des Anfang Januar 1919 von Karl Liebknecht und – mit weniger Entschlossenheit – von Rosa Luxemburg mit dem Ziel einer Rätediktatur angezettelten Spartakus-Aufstandes kaum geglückt wäre. Doch in diesen kritischen Wochen hätten sich Freikorps nicht nur bei der Abwehr von Feinden im Innern verdient gemacht. Von Riga aus, wo sich die bolschewistische Terrorherrschaft ihren Brückenkopf im Baltikum baute, wurde die Reichsgrenze in Ostpreußen bedroht. Wäre sie von Freikorps nicht mit Vorstößen weit nach Lettland hinein abgeriegelt worden, hätte dem Durchmarsch der Roten Armee nach Deutschland nichts mehr im Wege gestanden.
Die Deutung der Freikorps von Linksaußen hat bis heute Bestand
Weder die schnell wechselnden Reichsregierungen noch die linke bis liberale Öffentlichkeit wußten diese Rettungseinsätze zu würdigen. In der KPD- und SPD-Presse wie auch in bürgerlichen Blättern gaben Stimmen den Ton an, die den Männern, die den Herrschenden ihre Köpfe retteten, als „Söldlinge und Landsknechte“ verhöhnten. „Der Feind steht rechts“, warnten schizophrene sozialdemokratische Spitzenfunktionäre mit starrem Blick auf ihre ungeliebten feldgrauen Beschützer. „Haß und Hetze“, die DDR-Historiker ohne Abstriche aus ihrer tollwütigsten Version, der KPD-Agitation der 1920er übernahmen, und die auch bei vielen ihrer westdeutschen Kollegen seit 1968 zum Standardrepertoire ihrer Deutungen der Transformationsphase der Weimarer Republik zählten.
Es ist daher wenig erstaunlich, wenn in den zahlreichen Publikationen zum Jahrhundertjubiläum 2018 die von Freikorps ausgeübte „Gewalt“, die „Exzesse und Massaker“ des „weißen Terrors“ wieder im Zentrum einer extrem verengten Wahrnehmung stehen. „Am Anfang war Gewalt“ lautet der für solche Geschichtsklitterungen symptomatische Titel einer 2018 auf breite feuilletonistische Zustimmung gestoßenen Arbeit von Mark Jones (JF 28/22), die linke Gewalt verharmlost abtut, um freihändig exklusiv rechte „Gewaltkulturen“ zu konstruieren und „Kontinuitäten“ zu stiften, die von den Freikorps direkt zu SA und SS führen.
Gegen solche „subjektiven, monoperspektivisch verzerrten“ Schwarz-Weiß-Schablonen, die bis heute den öffentlichen Diskurs dominieren, der Patrioten zu „bösartigen Parias der Geschichte“ stilisiere, richten sich Hoffmanns bienenfleißig aus den Akten schöpfende Untersuchungen. Der Band „Freikorps im Spiel der Politik“ gibt eine Gesamtdarstellung ihrer Einsätze und legt Schwerpunkte auf die Kämpfe gegen „Spartakus“, gegen den Bolschewismus im Baltikum, auf die Beteiligung am Kapp-Putsch sowie, dies ist das umfangreichste Kapitel, auf die Operationen gegen den im Frühjahr 1920 geprobten kommunistischen Aufstand im Ruhrgebiet. Hingegen ist der Band über die Marinebrigade von Loewenfeld, die in Kiel und Berlin, in Oberschlesien und im Ruhrgebiet kämpfte, eher eine akribische ereignisgeschichtliche Fallstudie, die aber darüber hinaus mit ausführlichen mentalitätshistorischen Sondierungen zu den „Erfahrungshintergründen der Marine-Freiwilligen“ sowie mit einem wertvollen Schlußkapitel zur geschichtspolitischen Durchsetzung des Negativklischees „Freikorps“ in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur besticht.
Was beide Bände methodologisch verbindet, ist Hoffmanns Bestreben, weite zeitgenössische Handlungshorizonte wieder zu erschließen, um so die Komplexität vergangenen Geschehens vergegenwärtigend zu steigern, um ideologisch motivierte Vereinnahmungen zu verhindern. Welche Erkenntnisgewinne damit zu erzielen sind, wenn der Historiker den Toten zurückgibt, was sie einmal besaßen, die „Fülle der möglichen Zukunft, die Ungewißheit, die Freiheit, die Endlichkeit, die Widersprüchlichkeit“ (Thomas Nipperdey), demonstriert Hoffmann am eindrucksvollsten in seiner Innen- und Außenpolitik verzahnenden Rekonstruktion des Ruhraufstandes. Für marxistisch konditionierte Historiker in Ost und West war es bis 1989 ein „Ruhmesblatt“ in den Annalen der deutschen Arbeiterbewegung, weil er den gegen die Kapp-Putschisten im März 1920 ausgerufenen Generalstreik krönte. Die geballte Arbeitermacht, so will es die bis heute vermittelte Schulbuchlegende, habe die von einem Freikorps, der Marinebrigade Ehrhardt, unterstützte Konterrevolution im Keim erstickt und die Weimarer Demokratie vor ihren schlimmsten Feinden bewahrt.
Ruhr-Aufstand stand im Schatten des Polnisch-Sowjetischen Krieges
Tatsächlich, so Hoffmann, habe sich aus dem Generalstreik aber keine „heroische Abwehr eines gefährlichen rechtsradikalen Umsturzversuches“ entwickelt, wie die wissenschaftlich kolportierte linke Fama behauptet. Genaugenommen sei es noch nicht einmal ein wirklicher Aufstand gewesen, sondern ein von langer Hand von Moskau aus geschürter, mit Hilfe eingeschleuster russischer Instrukteure im Industrierevier losgetretenes Schwächungsmanöver. Denn die geostrategisch entscheidenden Prozesse liefen anderswo ab, an der Front des Polnisch-Sowjetischen Krieges, wo sie im Frühjahr 1920 kulminierten. Die Verbände der Roten Armee marschierten Richtung Warschau, und wäre nicht das „Wunder an der Weichsel“ geschehen, wäre der ursprüngliche Plan einer gleichzeitig mit der militärischen Invasion des Reiches zu entfesselnden, seit 1919 minutiös vorbereiteten bewaffneten Erhebung im wichtigsten Industrierevier Deutschlands wohl realisiert worden. Um deutsche Innenpolitik oder die Lebensinteressen der Arbeiterschaft im Ruhrbezirk sei es in diesem geopolitischen Machtspiel jedenfalls nie gegangen.
Zu den tieferen Dimensionen des Geschehens, denen Hoffmann ein eigenes Kapitel widmet, gehört auch das Gewicht, das dem Versailler Diktat in der zeitgenössischen Wahrnehmung zukam. Hier ist zu Recht viel von „Gefühlen“, ihrem starken Einfluß auf die politischen und militärischen Akteure die Rede. Ohne die „seelische Erschütterung“, die dieser „Raubfriede“ im allgemeinen, die Vertragsbestimmungen über die „alleinige deutsche Kriegsschuld“ und die Auslieferung von „Kriegsverbrechern“ an die Siegermächte im besonderen, bei den Offizieren und Soldaten der Freikorps auslösten, sei die permanente Bürgerkriegslage der frühen Weimarer Republik so wenig zu verstehen wie der trotz allem in den Resten von Heer und Marine nicht erloschene nationale Selbstbehauptungswille.
Den Zugang dazu können etablierte bundesdeutsche Historiker freilich nicht finden, die die Charakterwäsche der Umerziehung erfolgreich absolviert haben und die seit Generationen Anschluß an die „westliche Wertegemeinschaft“ suchen. In diesen Kreisen wird auch der Versailler Karthago-Frieden und die zu dessen Erzwingung aufrechterhaltene britische Hungerblocke, die 700.000 deutsche Nachkriegsopfer forderte, als „europäische Normalität“ schöngeredet. René Hoffmanns im besten Sinne revisionistisches Freikorps-Opus bietet zu solchen politisch korrekten Geschichtserzählungen eine wissenschaftlich seriöse Alternative.
René Hoffmann: Freikorps im Spiel der Politik. Zur Geschichte der deutschen Freikorps 1918–1920. Frank & Timme Verlag, Berlin 2023, gebunden, 609 Seiten, Abbildungen, 49,80 Euro
René Hoffmann: Die Marinebrigade von Loewenfeld. Freikorpsgeschichte und Deutungsvormacht. Frank & Timme Verlag, Berlin 2023, gebunden, 481 Seiten, Abbildungen, 49,80 Euro