© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/23 / 03. November 2023

Was blieb, war Propaganda
Hitlers „Marsch auf die Feldherrnhalle“ am 9. November 1923 in München / Das Scheitern des Putschversuches zeichnete sich bereits von Anfang an ab
Karlheinz Weißmann

Über die Stimmungslage im Münchner Herbst 1923 notierte Ernst Röhm in seinen Erinnerungen: „Im November war fast für jeden Tag ein ‘Putsch’ in Aussicht.“ Röhm spielte für solche Umsturzpläne eine entscheidende Rolle, da er zur Spitze des Deutschen Kampfbunds zählte, in dem die radikalsten Wehrverbände der bayerischen Landeshauptstadt zusammengeschlossen waren. Formell unterstanden sie Adolf Hitler, dem Führer der NSDAP und der ihr angegliederten Sturmabteilung (SA). Hitler gehörte wie Erich Ludendorff, der ehemalige Generalquartiermeister des Heeres, zu den Scharfmachern der politischen Rechten, die darauf brannten, nicht nur die Kontrolle über Bayern an sich zu reißen, sondern auch die Regierung der „Novemberverbrecher“ in Berlin davonzujagen.

Beide wußten allerdings, daß ihre eigenen Kräfte für einen Putsch zu schwach waren. Deshalb suchte man die Deckung des starken Manns in Bayern, des Generalstaatskommissars Gustav von Kahr, und der bewaffneten Macht vor Ort, repräsentiert durch General Otto von Lossow, den Landeskommandanten und Oberst Hans von Seißer, den Chef der Landespolizei. Auf Sympathie für seine Pläne glaubte Hitler rechnen zu dürfen, da es immer wieder zu Besprechungen zwischen Vertretern des Kampfbunds und dem „Triumvirat“ Kahr-Lossow-Seißer gekommen war. Zuletzt soll Lossow bei einer Unterredung ausdrücklich erklärt haben, daß er eine Rechtsdiktatur unterstützen werde, wenn diese Aussicht auf Erfolg habe. Allerdings stellte er sich wie Kahr und Seißer wohl die Errichtung eines autoritären Regimes vor, das in einem ersten Schritt die Restauration der bayerischen Krone vorbereitet hätte.

Die unter Zwang gebildete „Nationalregierung“ zerfiel sofort

Davon wollte Hitler allerdings nichts wissen. Als sich das Gerücht verbreitete, daß Kahr bei einer Veranstaltung am 8. November die Wiederherstellung der Monarchie erklären werde, entwickelten Hitler, Ludendorff und die Kampfbund-Führer deshalb hektische Aktivität. Es kam noch zu einer Aussprache zwischen Ludendorff und Lossow, bei der Ludendorff drohte, daß die Reichswehr im Zweifel ihm folgen werde, aber Lossow ließ sich nicht beeindrucken. Kurz darauf wurden die Einheiten des Kampfbundes unter „Kriegsgesetz“ gestellt. Allerdings erhielten sie ihre Alarmbefehle aus Sicherheitsgründen auf weißem, nicht auf dem – für den Ernstfall eigentlich vorgesehenen – roten Papier gedruckt, so daß mancher in der Annahme einer neuerlichen Übung gar nicht am verabredeten Sammelplatz erschien. Wahrscheinlich verfügten die Putschisten nur über etwa 4.000 Mann von sehr unterschiedlicher militärischer Qualität (Kriegsteilnehmer, Ausgebildete und Unausgebildete), denen etwa 1.800 Mann Landespolizei und 1.800 Soldaten der Reichswehr gegenüberstanden.

Während die Maßnahmen der Aufständischen anliefen, versammelten sich am Abend des 8. November auf Einladung Kahrs Repräsentanten aus Politik, Verwaltung und Armee, aber auch Vertreter der alten Eliten im Bürgerbräukeller an der Rosenheimer Straße. Kahr verlas mit monotoner Stimme ein umfangreiches Manuskript über den notwendigen Kampf gegen den Marxismus, als kurz nach 20.45 Uhr Hitler mit SA-Männern den Saal besetzte. In einer kurzen Ansprache an die Versammelten erklärte er: „Die nationale Revolution ist ausgebrochen. Die bayerische Regierung ist abgesetzt, eine provisorische Reichsregierung wird gebildet. Die Kasernen der Reichswehr und der Landespolizei sind besetzt, Reichswehr und Landespolizei rücken bereits unter Hakenkreuzfahnen heran. Ich schlage daher vor: bis zum Ende der Abrechnung mit den Verbrechern, die heute Deutschland tief zugrunde richten, übernehme die Leitung der Politik der provisorischen Reichsregierung ich.“

In einem Nebenzimmer suchte Hitler dann Kahr, Lossow und Seißer zur Zusammenarbeit zu bewegen, aber erst nach dem Eintreffen Ludendorffs waren die drei bereit, sich einer „Nationalregierung“ unter Ludendorff zur Verfügung zu stellen. Kahr sollte „Landesverweser“ Bayerns werden, während für Lossow das Amt des Reichswehrministers und für Seißer das eines „Reichspolizeiministers“ vorgesehen war. Die anwesenden Mitglieder der Landesregierung, darunter der Ministerpräsident Eugen von Knilling, wurden verhaftet, zwanzig Bürger jüdischer Herkunft nahmen die Putschisten als Geisel. Obwohl die Versammelten anfangs empört über deren Vorgehen gewesen waren, bahnte sich nach einer „Rütli-Szene“, bei der Hitler und Kahr einander die Hand reichten, ein Umschwung der Stimmung an. Allerdings drohte Hitler in einer kurzen zweiten Ansprache auch: „Der Saal ist von 600 Schwerbewaffneten besetzt. Wenn nicht sofort Ruhe eintritt, kommt ein Maschinengewehr auf die Galerie.“

Es ist im nachhinein nicht mehr eindeutig zu klären, ob Kahr, Lossow und Seißer bereits zu diesem Zeitpunkt entschlossen waren, die ihnen abgenötigten Zusagen nur zum Schein einzuhalten. In jedem Fall haben sie, auf Ehrenwort entlassen, sofort begonnen, Maßnahmen gegen die Putschisten zu ergreifen. Das fiel um so leichter, als die von Hitler aufgestellte Behauptung, daß Reichswehr und Landespolizei zu ihm übergelaufen seien, nicht zutraf. Auch gelang es dem Kampfbund – mit Ausnahme der Infanterieschule – nirgends, die Kasernen Münchens unter seine Kontrolle zu bringen. Dasselbe galt für den Hauptbahnhof, die Post- und Telegraphenämter. An den Hauptschauplätzen des Putsches, dem Bürgerbräukeller, dem Dienstgebäude des Generalstaatskommissars und dem Wehrkreiskommando, entstand rasch eine unübersichtliche Lage, weil die verantwortlichen Beamten und Offiziere nicht wußten, wessen Weisung sie zu folgen hatten.

Letztlich konnten sich die Putschisten nur auf die relativ schwachen eigenen Kräfte stützen. Noch schwerer wog, daß sie bis in die Morgenstunden des 9. November das Scheitern ihrer Pläne nicht begriffen. Denn schon um 2.50 Uhr hatte das Triumvirat folgenden Funkspruch abgesetzt: „An alle deutschen Funkstationen: GSTK von Kahr, General von Lossow und Oberst von Seißer lehnen den Hitler-Putsch ab. Die mit Waffengewalt erpreßte Stellungnahme im Bürgerbräu ist ungültig. Vorsicht gegen Mißbrauch obiger Namen geboten.“ Hitler und Ludendorff waren empört über den „Verrat“, kamen aber erst gegen 5 Uhr mit den Kampfbund-Führern im Bürgerbräukeller zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Es folgten erregte, aber folgenlose Debatten, während Kahr nach dem Eintreffen von Truppen zur Verstärkung der Reichswehr und der Landespolizei in München die Verhaftung der Aufständischen befahl, außerdem die Entwaffnung ihrer Einheiten und das Erscheinen der Tageszeitungen, die die Bekanntmachungen der „Nationalregierung“ enthielten, unter Androhung der Todesstrafe verbot.

Ludendorff wurde verhaftet, Hitler floh frustriert nach Österreich

Durchzusetzen war diese Anweisung aber nur teilweise, da man einige Morgenblätter bereits ausgeliefert hatte. Was Kahrs Sorge bestätigte, daß eine Darstellung der abendlichen Ereignisse in dem von Hitler gewünschten Sinn die Bevölkerung für dessen Sache einnehmen konnte. Immer wieder kam es in den nächsten Stunden zu spontanen Sympathiebekundungen, und häufig wurden Ordnungskräfte beschimpft, manchmal auch attackiert, die gegen den Kampfbund vorgingen.

Der später so berühmte „Marsch zur Feldherrnhalle“ war dann im Grunde genommen ein Verzweiflungsschritt, mit dem Hitler und Ludendorff die Unterstützung der Münchner gegen die bayerischen Machthaber weiter mobilisieren wollten. Darüber hinaus bestand wenig Einigkeit im Hinblick auf den Zweck dieser Aktion, nicht einmal in bezug darauf, ob man es auf Kampfhandlungen ankommen lassen wollte oder nicht. Erst gegen Mittag des 9. November setzten sich drei Kolonnen in Bewegung, die auf einer Breite von zwölf Mann marschierten. Etwa 2.000 Teilnehmer – manche bewaffnet, manche unbewaffnet – zogen vom Bürgerbräukeller los, auf der Rosenheimer Straße entlang in Richtung auf die Ludwigsbrücke. Die dort zur Verteidigung des Übergangs postierte Landespolizei wurde entwaffnet und teilweise gefangengesetzt; weiter ging es über die Zweibrückenstraße zum Isartor auf den Marienplatz am Alten Rathaus; vor einem stärkeren Polizeiposten wichen die Marschierenden aus und erreichten über die Theatinerstraße den Max-Josefs-Platz; dann setzten sie ihren Weg über die Residenzstraße zum Odeonsplatz fort.

Die ganze Zeit über wurden die Putschisten von einer Menschenmenge begleitet, die mit ihnen gemeinsam vaterländische Lieder sang und ihrer Begeisterung Ausdruck verlieh. Das mag mit zu der gehobenen Stimmung beigetragen haben, die viele Teilnehmer des Zuges erfaßte, die nach den Ereignissen an der Ludwigsbrücke glaubten, daß sich ihnen kein ernsthafter Widerstand entgegenstellen würde. Erst kurz vor der Feldherrnhalle mußten sie ihren Irrtum begreifen. Unter den Schüssen der Landespolizei brach die Demonstration und mit ihr der Staatstreichversuch endgültig zusammen. Der Zug löste sich sofort auf, und die Teilnehmer verschwanden in den Seitenstraßen; Versuche, einen Häuserkampf zu führen, gab es bezeichnenderweise nicht.

Es war nie zu klären, welche Seite an der Feldherrnhalle das Feuer eröffnet hat. Nur so viel konnte eindeutig festgestellt werden, daß der Hauptmann Rudolf Schraut – ein Sympathisant der Nationalsozialisten – sowie drei Polizisten und auf Seite der Putschisten 16 Männer ums Leben gekommen waren. Ludendorff, der anders als Hitler aufrecht geblieben war, konnte durch die Reihen der Ordnungskräfte weitermarschieren, wurde aber sofort verhaftet. Hitler selbst floh verletzt. Zwei seiner Männer hatten sich schützend vor ihn geworfen, als die Schüsse fielen und waren umgekommen. Ihm selbst gelang es, die österreichische Grenze zu erreichen, wo er sich im Haus des befreundeten Ernst Hanfstaengl versteckte. 

Trotz der gelungenen Flucht war Hitler tief verzweifelt und nur mit Mühe vom Selbstmord abzuhalten. Zehn Jahre später beurteilte er das, was ihm 1923 als Katastrophe und Ende seiner politischen Karriere erschienen war, aber aus völlig anderer Perspektive: „Es war das größte Glück für uns Nationalsozialisten, daß dieser Putsch gescheitert ist: denn 1.) eine Zusammenarbeit mit General Ludendorff wäre gänzlich unmöglich gewesen ..., 2.) die schlagartige Machtübernahme im ganzen Reichsgebiet wäre 1923 auf die größten Schwierigkeiten gestoßen, weil dazu erforderliche Vorbereitungen nicht im entferntesten von der nationalsozialistischen Partei getroffen wären, und 3.) die Vorgänge am 9. November 23 vor der Feldherrnhalle mit ihren Blutopfern haben sich als wirksamste Propaganda für den Nationalsozialismus erwiesen.“