© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 45/23 / 03. November 2023

Im Zweifel konservativ
Der italienische Politologe Spartaco Pupo sucht nach den Vorreitern des modernen Konservatismus. In Schottland wird er fündig
Florian Werner

Herr Pupo, Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit politischer Skepsis. Muß ich mir jetzt einen Aluhut basteln?

Spartaco Pupo: Nein. Das nicht. Schließlich müssen Sie als Staatbürger ja nicht an allem zweifeln. Nehmen Sie beispielsweise Ihre eigene Existenz. Die kann empirisch sehr einfach nachgewiesen werden. Skeptiker stellen nicht die Wahrheit an sich in Frage, sondern nur das Verlangen nach einer „sicheren“ Wahrheit. Dieses ist eigentlich nur ein fester Glaube. Es ist sinnvoll, Leuten zu mißtrauen, die ihre eigenen Überzeugungen nicht einmal ein kleines bißchen in Frage stellen – beispielsweise Revolutionäre, die andere mit Gewalt zur Annahme ihrer Glaubenssätze zwingen, obwohl sie wissen, daß sie nur eine Minderheit vertreten.

Womit wir schon beim Stichwort Politik wären.

Pupo: Ganz genau. Skeptiker sind darauf vorbereitet, ihre Überzeugungen einer empirischen und historischen Prüfung zu unterziehen. Sprich, alles zurückzuweisen, was den fundamentalen Tatsachen der menschlichen Existenz widerspricht. Skeptiker halten dagegen, wenn jemand mit den Mitteln der Politik die Erlösung der Menschheit erreichen will. Wer so etwas fordert, ist ein Schurke, der politische Rezepte für alles und jeden anbietet. Diese beruhen dann meist auf Ideologien, die nicht einmal der kleinsten Nachfrage standhalten. Skeptiker hingegen gründen ihre Positionen darauf, wie ihnen die Realität erscheint. Sie akzeptieren nur das als wahr, was ihnen die Erfahrung nahelegt. Alles andere lehnen sie ab.

Was uns zum Aluhut zurückbringt... Man kann es mit den Zweifeln doch auch übertreiben, oder?

Pupo: Die sogenannte Ataraxie, der von den skeptischen Philosophen der Antike angestrebte Seelenzustand absoluter Gleichmütigkeit, funktioniert in der Politik natürlich nicht. Er weckt radikale Zweifel, die dazu verführen, alle Gewissheiten abzulehnen, selbst die hundertprozentigen. Skepsis wie diese endet in der Abkehr von allen weltlichen Aspekten des Lebens. Das schließt die Politik mit ein. Im Vergleich dazu ist der Konservative ist nur ein moderater Skeptiker, der versteht, daß Politik zum Leben dazugehört und nicht Gegenstand ewiger Wahrheiten, Glaubenssätze, Dogmen oder Staatsutopien sein kann.

Der Philosoph David Hume hat den Konservatismus wiederbelebt Unlängst haben Sie ein Buch geschrieben: „David Hume – der skeptische Konservative“. Haben Sie das alles von dem Schotten gelernt?

Pupo: Meiner Meinung nach ist Hume der erste Konservative im modernen Sinne des Wortes, der von Edmund Burke vertretenen Philosophie der Konterrevolution um Jahrzehnte voraus. Burke hat den metaphysischen, kosmologischen, moralischen und religiösen Traditionalismus ins Leben gerufen. Hume hingegen hat einen anderen, einen skeptischen Konservatismus begründet. Dieser wendet sich vor allem gegen den politischen Rationalismus – das wahre Fundament des universalistischen Progressivismus unserer Zeit. Diesen erwischt Hume dabei, wie er sich als Philosophie verkauft. Der damit verbundene konservative Zugang zur Staatskunst hat nichts mit Idealen, Prinzipien und Werten zu tun, die aus dem blinden Gehorsam an eine Ideologie entspringen. Vielmehr besteht dieser Konservatismus darin, persönliche Entscheidungen auf der Grundlage mehr oder weniger gut begründeter Glaubenssätze, Meinungen, Pläne, Ideen, Kompromisse und Interessen zu treffen.

Steht Hume mit dieser Methode alleine da oder gab es noch mehr skeptische Konservative?

Pupo: Hume war nicht alleine. Michael Oakeshott, für mich einer der größten konservativen Philosophen des 20. Jahrhunderts, hatte sich ebenfalls in diese Richtung geäußert. Ihm zufolge überhöht der dogmatisch denkende Progressive die Politik zu einer Religion, die von ihren Anhängern feststehende Einstellungen abverlangt. Konservative hingegen sähen in der Politik lediglich ein Instrument, um den Menschen in der Gesellschaft bei ihren mannigfaltigen Plänen und Tätigkeiten als zuverlässiger Maßstab zu dienen. Wer Oakeshotts Blickwinkel einnimmt, merkt schnell, daß der Konservatismus, den seinerzeit Hume vertrat, politisch im besten Sinne des Wortes war – unabhängig von religiösen Fragen, für Recht, Ordnung, für Sicherheit und für das Interesse der Nation. Humes Denkweise wurde von einer nüchternen Anerkennung der politischen Praxis angetrieben, die der schädlichen Erneuerungswut der Radikalen entgegenstand.

Mit dieser Haltung wird er sich bei seinen Zeitgenossen, den Rationalisten Diderot und Lessing, keine Freunde gemacht haben, oder?

Pupo: Ein gemütliches Bier war wohl nicht drin, nein. Im Unterschied zur deutschen und französischen Aufklärung, die reihenweise Weltbürger hervorbrachte, entwickelte die sogenannte schottische Aufklärung um David Hume eine geradezu antirevolutionäre Weltsicht. Schottlands Aufklärer waren konservativ, wiesen fixe Dogmen zurück und verteidigten die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur. Für Hume beispielsweise war die menschliche Vernunft lediglich „ein Sklave der Leidenschaften“. Die Schotten versuchten deshalb, Reformen einzuführen, die der Kultur, dem Wohlstand und den Bürgern der Nation zugute kommen würden. Als eifrige Patrioten lehnten sie Erlösungsphantasien wie die von der nahenden „Widergeburt der Menschheit“ ab. Sie lehnten sich außerdem gegen den damals grassierenden Kult um das Naturrecht auf, der bereits den Keim der heutigen Menschenrechtsrhetorik enthielt. Es ist alles in allem also kein Zufall, daß der geschichtswissenschaftliche Mainstream alle Aufklärungsbewegungen ehrt, außer die schottische.

Sunak, Meloni und Orbán sind Skeptiker in Regierungsämtern

Von der Theorie in die Praxis: Was ist mit Sunak, Meloni und Orbán? Sind das skeptische Konservative?

Pupo: Die drei Regierungschefs sind meiner Meinung nach schon allein deshalb konservative Skeptiker, weil sie den universalistischen Glaubenssätzen des Mainstreams widersprechen. Umgekehrt gilt aber auch: Als skeptische Konservative haben Orbán, Meloni und Co. die Interessen ihrer Nation immer wieder auch über ihre eigenen Anschauungen gestellt. Sie haben sich also nicht immer an die „Vorschriften“ ihres Lagers gehalten, wenn es darum ging, Familie und Gemeinschaft als Eckpfeiler konservativer Politik zu schützen. Damit sind sie nicht in Pragmatismus abgeglitten, sondern haben im Gegenteil an einer Reihe unveränderlicher Prinzipien festgehalten.

Das heißt konkret …?

Pupo: Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit und einer höheren Besteuerung des Bankenwesens werden gemeinhin als links betrachtet. Doch der bröckelnde Zusammenhalt der Gesellschaft in der Corona-Krise hat Probleme aufgeworfen, deren Lösungen sich nicht mehr mit der Warnung vor roten Socken abkanzeln lassen. Rishi Sunak etwa hat Bänker öffentlich dazu aufgerufen, Privathaushalten mit einer Anhebung der Sparbuchzinsen unter die Arme zu greifen. Viktor Orbán wiederum hat in Ungarn viel Zustimmung für sein Vorhaben geerntet, unethische Geschäftspraktiken im Finanzsektor zu unterbinden. Und auch Giorgia Meloni hat unlängst eine „Einmalsteuer“ auf den Weg gebracht, die auf besonders hohe Gewinn-Margen bei Banken zielt. Der klassische Fall skeptischer Politik ist allerdings bei Margaret Thatcher zu suchen, die 1981 eine Spezialsteuer für Banken durchboxte und damit viele Konservative in Großbritannien schockierte, weil es mit der Parteilinie brach. Das zeigt mehr als deutlich, daß sich Skeptiker „im Zweifelsfall“ nicht an die Prinzipien ihres Lagers halten, wenn es darum geht, die Eckpfeiler konservativer Politik zu schützen.

Besteht da nicht ein Spannungsverhältnis zwischen Skepsis und Konservatismus? Auch in Deutschland werden Stimmen laut, die konservative Politik um eine kohärente Weltanschauung ergänzen wollen.

Pupo: Ich sehe dort tatsächlich ein Problem. Ein derart metaphysisch aufgeladener Konservatismus ist nämlich im Grunde völlig apolitisch, wenn um das Wohlergehen des Landes geht. Der berühmte italienische Historiker Francesco Guicciardini hat Politik einmal sehr treffend als eine Kunst bezeichnet, die unüberschaubar vielen Einzeltätigkeiten der Menschen in unserer Gesellschaft zu regeln, zu ordnen und einzuhegen. Dieses mühselige Handwerk läßt sich nicht anhand abstrakter Pläne und Ideen erlernen.

Konservative aus Prinzip sind also die schlechteren Politiker?

Pupo: Nicht nur das. Wenn Konservative auf einmal idealistische Ziele wie die Erlösung der Menschheit verfolgen, werden sie zu einer Sekte. Diese begnügt sich nicht mehr bloß damit, immer wieder dieselben Glaubenssätze und Gefühlslagen abzuspulen. Vielmehr werden die einmal aufgestellten Dogmen alles und jedem aufgezwungen. Und das ist dann direkt gefährlich. 

Ihr Gegenentwurf …?

Pupo: Wenn der Konservative sich seine Skepsis bewahrt, wird er als Politiker stets ein größeres Gewicht auf die Praxis als auf die Theorie legen. Das bedeutet auch, daß er den Bräuchen und Gesetzen seines Landes treu bleibt und lieber naiv an den Erfolg stückweise vonstatten gehender Reformen glaubt, als sich irgendeiner großartigen Vision hinzugeben. Konservativer Skeptizismus ist Mäßigung und Gelassenheit, die aber nichts von ihrer Klarsicht und Entschlossenheit preisgibt.






Spartaco Pupo: Jahrgang 1974, lehrt als Professor der Politologie an der Universität von Kalabrien und hat mehrere Studien zu konservativen Klassikern wie den Philosophen Robert Nisbet und Michael Oakeshott vorgelegt, die er auch übersetzt.