Es ist wie ein kleiner Hoffnungsschimmer, der am Montag abend in Israel aufflackert: die Nachricht, daß die israelische Armee eine entführte Soldatin im Gazastreifen befreit hat. „Danke an den Schöpfer der Welt!“, sagte eine völlig aufgelöste Tante der Entführten im Fernsehen: „Das Volk Israel lebt!“ Die Soldatin ist die fünfte Frau, die seit der Entführung von mehr als 200 Menschen am 7. Oktober wieder freikommt. Doch der Vorgang hat eine neue Bedeutung: Erstmals hat die Armee aus eigener Kraft eine Geisel zurückgebracht.
Aus Sicht der politischen wie militärischen Führung kommt das genau zum richtigen Zeitpunkt, denn am Wochenende hat sie die nächste Kriegsphase mit umfangreichen Bodenmanövern im Gazastreifen eingeleitet. Artillerie und Infanterie befinden sich nun dauerhaft in der Küstenenklave. Zuvor hatte die Regierung lange gezögert: Offenbar bestand die durch zahlreiche Berichte genährte Hoffnung, vor Beginn intensiverer Bodenaktionen noch weitere Geiseln auf dem Verhandlungsweg über Katar freizubekommen.
Vielen Geiselangehörigen erscheinen das „Bodenmanöver“ auf der einen und die Hoffnung auf Befreiung ihrer Angehörigen auf der anderen Seite wie zwei konkurrierende Aspekte. Gerade erst hat die Hamas in ihrer psychologischen Kriegsführung wieder ein zynisches Video veröffentlicht, in dem eine Geisel Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vorwirft, „uns alle mit der Armee umbringen zu wollen“.
„15 Jahre hatte er Zeit seine Politik gegenüber Hamas zu ändern“
Der Premier hat sich mittlerweile aber auf die Linie festgelegt, daß die Ausweitung der Bodenoperationen nicht im Widerspruch zum Ziel der Geiselbefreiung stünde, sondern daß das eine das andere vielmehr bedinge: Man müsse Druck auf die Hamas ausüben.
Für Netanjahu ist dieser Krieg die größte Herausforderung seiner Karriere, die er zudem in schwer angeschlagenem Zustand meistern muß. Zwar ist das Einheitsstreben in der Gesellschaft groß. Die Menschen stehen hinter der Armee und sind sich einig in dem Ziel, die Hamas vollständig zu zerstören. Die Debatte um die Justizreform, die das Land in diesem Jahr so sehr spaltete, scheint derzeit wie aus einer anderen Welt – die Bühnen der großen Demonstrationsveranstaltungen sind längst abgebaut.
Doch das bedeutet nicht, daß Muster der vergangenen Polarisierungen völlig verschwunden wären, jedenfalls nicht jene, die sich an Netanjahus Person festmachen. Das Mißtrauen seiner Gegner ihm gegenüber ist nach wie vor da: So ist auch jetzt der in den vergangenen Jahren viel-ventilierte Vorwurf, Netanjahu gehe es einzig und allein um sein eigenes politisches Überleben, nicht aus der Welt. Deswegen dürfte es Ex-Armeechef Benny Gantz nicht leichtgefallen sein, in Netanjahus Kriegskabinett einzutreten – 2020 war er in einer Corona-„Notfallregierung“ schließlich von „Bibi“ gnadenlos über den Tisch gezogen worden. Alle anderen Oppositionsfraktionen bleiben der Regierung bislang fern.
Netanjahu selbst heizt die Vorbehalte gegen seine Person weiter an: Während zahlreiche Führungskräfte, darunter die Chefs des Inlandsgeheimdienstes Schabak und des Militärgeheimdienstes Aman sowie Vertreter der Regierung Fehler im Vorfeld des Terrorüberfalls der Hamas 7. Oktober eingeräumt beziehungsweise Verantwortung übernommen haben, gibt sich der Premierminister bislang schwammig. Seine Linie lautet, daß er zwar Antworten geben werde, allerdings erst nach dem Krieg.
Am Sonntag nach Mitternacht setzte Netanjahu dann auch noch einen Tweet ab, in dem er auf die Chefs des Inlands- und des Militärgeheimdienstes verwies, die der Meinung gewesen seien, „daß die Abschreckung gegen die Hamas wirkt“. Das sorgte für Empörung, weil es wie ein Angriff auf das Sicherheitssystem mit dem Ziel der eigenen Entlastung wirkte.
Ins Bild der Netanjahu-Kritiker paßten da auch noch Berichte, daß seine Frau Sara zu dem Tweet gedrängt haben soll. Sie ist schon lange ein Feindbild der Kritiker, die sie für die eigentlich treibende Kraft hinter dem Premierminister halten. Nachdem auch Gantz Netanjahu vorgeworfen hatte, „der Standhaftigkeit und Kraft des Volkes“ zu schaden, gestand der Premier ein, daß der Tweet ein Fehler war.
Bislang finden diese Scharmützel noch auf einem Nebenkriegsschauplatz statt. Doch es ist absehbar, daß Israel nach dem Krieg heftige Auseinandersetzungen bevorstehen. Im Moment ist kaum vorstellbar, daß Netanjahu sich im Amt halten kann. In Umfragen ist seine Likud-Partei abgestürzt und Benny Gantz emporgeschossen.
Selbst die eher im Regierungslager stehende Zeitung Israel Hajom klang am Montag in einem Leitartikel vernichtend: „Es wird Netanjahu nicht gelingen, die Schuld wegzuschieben. 15 Jahre hatte er Zeit, seine Politik gegenüber der Hamas zu verändern. Er tat nichts – wegen einer Mischung aus Arroganz und Fahrlässigkeit.“