Im deutschen Migrationsdiskurs tut sich Ungewöhnliches. Etablierte Leitmedien, die bislang unverdrossen das Hohelied der gesellschaftlichen „Bereicherung“ durch Zuwanderung gesungen hatten, schlagen plötzlich migrationskritische Töne an, für die sie noch vor kurzem jeden Abweichler in die Ecke gestellt hätten. Zeichen und Wunder geschehen sogar im Zwangsgebührenfunk. Im Heiligtum der allabendlichen Gesinnungspredigt plädiert eine junge Journalistin vom Bayerischen Rundfunk für eine realistischere und restriktivere Migrationspolitik.
Auch die politische Klasse schlägt seit neuestem andere Töne an. SPD-Kanzler und parteigleiche Bundesinnenministerin führen das große Wort für die Beschleunigung und Verstärkung von Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber. Gleich mehrere Ampel-Kabinettsmitglieder sind auf dem afrikanischen Kontinent unterwegs, um Migrations- und Rücknahmeabkommen auszuhandeln. Bei Union und FDP freunden sich erste Stimmen mit der Verlagerung von Asylverfahren in Länder außerhalb Europas an.
Grenzkontrollen, von Innenministerin Faeser eben noch entrüstet als „wirkungslos“ zurückgewiesen, sind auf einmal kein Tabu mehr. Und der Bundesfinanzminister spricht aus, worüber noch vor kurzem unweigerlich der Bann des „Rechtspopulismus“ verhängt worden wäre: Großzügige Sozialleistungen wirken als Einladung für unerwünschte Migration und müssen daher beschnitten werden.
Ist das also schon die „Migrationswende“? Es ist ein Blick in die Richtung, die einzuschlagen wäre, um Deutschlands Migrationspolitik wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Etwas Notwendiges auszusprechen bedeutet nicht, daß es damit auch getan wäre.
Worte sind wohlfeil; für Oppositionsparteien, die nicht unmittelbar vor der Herausforderung stehen, das Gesagte auch umzusetzen, aber auch für die regierenden Kräfte, die sich mit wohltönenden Absichtserklärungen in Oppositionspose werfen, obwohl sie doch Zeit genug gehabt hätten, ihren angegebenen Absichten auch Taten folgen zu lassen.
Die unvermittelten Bekenntnisse von Kanzler und Innenministerin zur rascheren Aufenthaltsbeendigung unrechtmäßig anwesender Asylzuwanderer erinnern nur allzu fatal an das „Abschieben, Abschieben, Abschieben“, mit dem Bundeskanzlerin Angela Merkel im Wahljahr 2017 den wachsenden Unwillen über ihre Politik der offenen Grenzen dämpfen wollte. Der großspurig angekündigten „Nationalen Kraftanstrengung“ zur Abschiebung folgte damals – nichts.
Mit dem Benennen nicht mehr zu verdrängender Probleme ist der überfällige Diskurs allenfalls angestoßen. Bis zur Herstellung eines Konsenses über die notwendigen Maßnahmen, geschweige denn zu ihrer Durchführung, ist es noch ein sehr weiter Weg. Die Widerstände sind immens; denn es geht nicht nur um ideologische Glaubensgewißheiten, sondern auch um sehr viel Geld.
Von den geschätzt mindestens 50 Milliarden Euro, die der Steuerzahler jährlich für die Massenzuwanderung in all ihren Spielarten aufbringen muß, landet nur ein Teil direkt bei jenen, die von diesem Geldsegen zu Hunderttausenden aus aller Herren Länder nach Deutschland gelockt werden. Weitaus ergiebiger sind die Finanzströme, die in den weitverästelten und gut vernetzten Strukturen der Asyl- und Betreuungsindustrie versickern.
Die Zahl derer, die davon leben, geht in die Hunderttausende, wenn nicht Millionen. Entsprechend erbittert ist der Widerstand dieser Profiteure und ihrer Lobbyisten in Politik, Medien und politiknahen gesellschaftlichen Strukturen. Schon der Gedanke an eine Änderung oder gar Beschneidung dieses lukrativen Geschäfts löst bei dieser Klientel giftigen Haß und aggressive Realitätsverweigerung aus.
Ein vom „Who is Who“ der Asyl- und Sozialindustrie unterzeichneter Aufruf bezeichnet die Kürzung von Sozialleistungen für Asylbewerber als Verstoß gegen die „Menschenwürde“, SPD und Grüne halten sie rundweg für „verfassungswidrig“. Noch weiter geht die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Annette Kurschus, qua Amt Repräsentantin eines der größten Akteure der Migrations- und Sozialindustrie. Sie weist schon jeden Gedanken an Migrationsbegrenzung zurück und beschwört den Mythos vom „reichen Land“, das die Grenze der Belastbarkeit „noch lange nicht erreicht“ habe.
Eingeklemmt zwischen der Realität des migrationspolitischen Staatsversagens und der geballten Wirklichkeitsverweigerung der Ideologen flüchten die politisch Verantwortlichen in Alibi-Politik. Der Kabinettsentwurf zur Abschiebungserleichterung gibt selbst zu, im Jahr weniger zusätzliche Abschiebungen zu ermöglichen, als illegale Migranten pro Tag neu ins Land kommen.
Auch die verspochenen Grenzkontrollen werden ihren Zweck verfehlen, wenn weder Zurückweisungen stattfinden noch finanzielle und aufenthaltsrechtliche Migrationsanreize abgebaut werden. Ebensowenig werden bilaterale Migrationsabkommen zur Verminderung der Zuwanderung beitragen, solange der Akzent auf der Schaffung legaler Migrationswege liegt.
Das oft geübte Kalkül, migrationspolitischen Handlungsdruck durch Ankündigungen und Alibimaßnahmen auszusitzen, wird nicht aufgehen. Die Reserven sind verbraucht, sämtliche Indikatoren – die finanziellen, die sozialen, gesellschafts- und sicherheitspolitischen – stehen auf Kollaps. Die Migrationswende ist die Schicksalsfrage, an der sich entscheidet, ob Deutschland noch eine Zukunft als funktionierendes Staatswesen hat. Sie ist nicht unmöglich; daß Migration nicht kontrollierbar sei, behaupten nur jene, die sie nicht begrenzen wollen.
Gelingen kann eine Wende nur, wenn sie sich nicht in Einzelmaßnahmen verzettelt. Sie muß vielmehr von dem Willen getragen sein, Asyl-, Aufenthalts- und Staatsbürgerrecht, Sozialstaat, Rechtssystem, Verwaltungs- und Sicherheitsapparate grundlegend zu reformieren und dabei Migrationslobby und Sozialindustrie zu entmachten. Ob diese Aufgabe mit dem verfügbaren politischen Personal überhaupt zu bewerkstelligen ist, steht auf einem ganz banderen Blatt.