Der renommierte Politologe Wolfgang Merkel legt mit „Im Zwielicht“ einen Überblick über sein Schaffen der letzten 15 Jahre vor. Es handelt sich um eine Sammlung von Aufsätzen, die zwischen 2009 und 2023 verfaßt und für das vorliegende Buch entweder neu geschrieben oder überarbeitet wurden. Diese Überarbeitung erfolgte allerdings insoweit nur halbherzig, als daß unterlassen wurde, Überschneidungen und Wiederholungen zu beseitigen, welche in ihrer Häufung doch ziemlich störend wirken.
Merkel diskutiert die Frage, ob und in welchem Ausmaß die Demokratie in einer Krise steckt, wie dies heute häufig behauptet wird. Er weist darauf hin, daß es weder „die“ Demokratie noch eine existenzbedrohende Krise derselben gibt, sondern daß verschiedene Demokratien vor verschiedenen Herausforderungen stehen. Im Fall der westlichen liberalen Demokratien, und insbesondere im Fall Deutschlands, identifiziert er hauptsächlich drei solcher Herausforderungen: erstens, die zunehmende Ungleichverteilung infolge eines durch die Globalisierung entfesselten Kapitalismus; zweitens, die fortschreitende Entmachtung der Legislative durch die Exekutive, welche einerseits die Folge eines permanenten Krisenmodus in der Politik, andererseits auf die immer weitergehende Kompetenzverlagerung auf supranationale Institutionen zurückzuführen ist; und drittens die gesellschaftliche Spaltung durch den Konflikt zwischen „Kosmopoliten“ und „Kommunitariern“.
Diesem gesellschaftlichen Konflikt entspricht der politische Gegensatz zwischen Linksliberalen und den sogenannten „Rechtspopulisten“. Merkel weist zwar darauf hin, daß auch erstere die Demokratie insofern gefährden, als sie dem politischen Moralismus verfallen sind und deshalb nicht nur Andersdenkende diffamieren und ihnen gegenüber eine „Beobachtungs- und Verbotskultur“ vertreten, sondern über ihrer guten Gesinnung allzu leicht geneigt sind, die Konsequenzen ihrer Politik zu vernachlässigen. Wenn Merkel andererseits die Rechtspopulisten an mehreren Stellen als „Feinde der liberaldemokratischen Gesellschaft“, als „nur begrenzt legitim“, als „illiberal“ und als undemokratisch bezeichnet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich damit nur um eine Pflichtübung handelt, mit der er Ausgewogenheit demonstrieren und verhindern will, in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden.
Diese Gefahr ist nicht ganz von der Hand zu weisen, kritisiert er doch vor allem die Krisenpolitik der letzten Jahre sehr hart und mit Argumenten, die auch von den „Rechtspopulisten“ vorgetragen werden. In diesem Zusammenhang fällt auch auf, daß er, der sonst so sorgfältig und vorurteilsfrei argumentiert, es nicht nur unterläßt, den Begriff des „Populismus“ zu definieren, sondern auch nicht näher ausführt, auf welche Art und Weise diese bösen „Rechtspopulisten“ Demokratie und Freiheit bedrohen. Das dürfte auch deswegen nicht ganz einfach sein, da doch diese Parteien letztlich nur als Reaktion auf die auch von Merkel kritisierten politischen Entwicklungen der letzten Jahre entstanden sind – und damit weniger Ursache als vielmehr Symptom der von Merkel konstatierten Erosion der Demokratie in vielen Ländern sind. Schwer nachvollziehbar ist auch, warum „die freie Wahl des eignen Sexus und Gender (…) auch für kleinste Minderheiten geschützt werden“ soll, obwohl dies keineswegs aus dem von Merkel postulierten „mittleren“ Demokratiekonzept folgt. Denn zu diesem gehören freie, gleiche und allgemeine Wahlen, die Garantie von Grundrechten und die Beachtung rechtsstaatlicher Prinzipien – und nichts anderes. Bei dem „Liberalismus“, auf den Merkel sich hier und bei seiner Kritik an den „Rechtspopulisten“ bezieht, handelt es sich offensichtlich nicht um den klassischen Liberalismus à la Hayek, sondern um den „woken“ Linksliberalismus, wie ihn die Grünen oder die radikalen US-Demokraten repräsentieren. Es ist vollkommen legitim, diese Auffassung von „Liberalismus“ zu vertreten, aber man sollte das dann auch deutlich machen – und, vor allem, bei einer Begriffsabgrenzung bleiben.
Corona-Maßnahmen als Blaupause für eine künftige Klimapolitik
Was die Krisenpolitik angeht, so übt er insbesondere an der Klima-, Corona- und Migrationspolitik harte und durchaus berechtigte Kritik. Für besonders gefährlich hält er den Mißbrauch der Wissenschaft in der Corona- und in der Klimakrise. Aus wissenschaftlichen Fakten, sollten diese auch zweifelsfrei sein, folgten keine politischen Maßnahmen; diese bedürften einer demokratischen Legitimierung. Er sieht die große Gefahr, daß die Corona-Politik mit ihren restriktiven und freiheitsgefährdenden Maßnahmen als Blaupause für die künftige Klimapolitik dient – was sich ja gegenwärtig immer stärker abzeichnet. Dadurch drohe eine „neue Normalität“, die durch ein „illiberales Regierungshandeln“ gekennzeichnet sei. Und hier scheint „liberal“ wieder im klassisch-liberalen Sinn verwendet zu werden. Im Unterschied zu den bisher genannten Krisen hält Merkel die Europolitik zwar für „illegal und illegitim“, aber dennoch für „sachlich richtig“, ohne dies jedoch näher zu begründen. Hans-Werner Sinn ist der bekannteste, aber bei weitem nicht der einzige Ökonom, der dies vollkommen anders sieht.
Aus Sicht Merkels stellen all diese Krisen die Demokratie nicht grundsätzlich in Frage. Auch langfristige Krisen wie die Klimakrise könnten demokratisch bewältigt werden und erforderten keine Öko- oder sonstige Diktaturen. „Schneller, zentralisierter, exekutiver erscheint ein populärer Irrweg. Demokratie braucht Zeit, Pluralismus und Dissidenz. Werden ihr diese entzogen, verliert sie an Qualität und Resilienz. Damit stoppen wir nicht die weltweite Erosion der Demokratie, sondern beschleunigen sie.“ Dem sollten alle demokratisch gesinnten Leser dieses Buches, gleich welcher politischen Couleur, zustimmen können.
Wolfgang Merkel: Im Zwielicht. Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert. Campus Verlag, Frankfurt/Main 2023, gebunden, 381 Seiten, 39 Euro