© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/23 / 27. Oktober 2023

Alles auf Atatürk zugeschnitten
Am 29. Oktober 1923 wurde die türkische Republik gegründet
Thomas Schäfer

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches infolge der Ereignisse des Ersten Weltkrieges schien es zunächst so, als ob aus dessen Konkursmasse kein neuer lebensfähiger und souveräner Staat entstehen könnte. Denn der Zweck des Friedensdiktates von Sèvres aus dem August 1920 bestand erklärtermaßen darin, „die Türken wegen ihrer Verrücktheit, ihrer Blindheit und ihrer Morde“ auf härteste Weise abzustrafen. Allerdings errang die nationale Widerstandsbewegung unter der Führung von Mustafa Kemal Pascha im Türkischen Befreiungskrieg gegen die von Großbritannien und Italien unterstützten Besatzungsmächte mit Griechenland an der Spitze mehrere entscheidende militärische Erfolge. Die Folge hiervon war der Waffenstillstand von Mudanya vom 11. Oktober 1922 sowie der Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923, welcher auf eine Revision des Friedens von Sèvres hinauslief, denn er gab den Türken die Souveränität über weite Teile des ehemaligen Osmanischen Reiches in Anatolien und Thrakien zurück.

Ende des Kalifats 1924 erweiterte Atatürks Macht  

Als Unterzeichner fungierten in Lausanne die Vertreter der Großen Nationalversammlung in Ankara, die nach der Abschaffung des Sultanates das Sagen im Lande hatte. Dieses Parlament erklärte Ankara am 13. Oktober 1923 zur neuen Hauptstadt und proklamierte dann am 29. Oktober die Republik Türkei (Türkiye Cumhuriyeti). Zu diesen Zeitpunkt bekleidete der frühere Kronprinz des Osmanischen Reiches, Abdülmecid II., jedoch noch das Amt des Kalifen, welches die Sultane in Istanbul über Jahrhunderte in Personalunion ausübten. Daher war es naheliegend, daß die Nationalversammlung am 3. März 1924 entschied, auch dem Kalifat ein Ende zu bereiten. Erst damit standen der türkische Staatspräsident Mustafa Kemal Pascha und der Ministerpräsident Mustafa İsmet Pascha tatsächlich unangefochten an der Spitze des neuen Staates, wobei der erstere nachfolgend seine politischen Leitlinien umsetzte.

Hauptmerkmale des sogenannten Kemalismus waren dabei der Republikanismus im Sinne der Volkssouveränität, der türkische Nationalismus mit seiner Ablehnung eines Vielvölkerstaates nach osmanischem Zuschnitt, der Populismus als Ausdruck einer Politik für das gesamte Volk, der Laizismus, das heißt die Trennung von Staat und Religion, der Etatismus mit partieller staatlicher Wirtschaftslenkung sowie der Revolutionismus, der auf eine ständige Umsetzung von Reformen abzielte.

Zu diesen gehörten unter anderem die Abschaffung der religiösen Gerichte (1924) und die Übernahme europäischer Rechtssysteme (1926), die Säkularisierung (1928), die als „Buchstabenrevolution“ in die türkische Geschichte eingegangene Ersetzung der arabischen Schrift durch die lateinische (1928), die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechtes für Frauen (1930) sowie Bildungsreformen (1933) und ein neues Namensrecht (1934), das jeden Türken verpflichtete, außer seinem Vornamen auch einen Familiennamen zu führen.