© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/23 / 27. Oktober 2023

Die Perfidie nicht durchschaut
Fürst Karl Max Lichnowskys Londoner Mission und seine Illusionen über die britische Schlüsselfigur Edward Grey
Heinz-Joachim Müllenbrock

Im Oktober 1912 wurde Fürst Karl Max Lichnowsky von Wilhelm II. zum deutschen Botschafter in London berufen und vom Kaiser mit dem Auftrag versehen, auf englische Neutralität im Falle eines kontinentalen Krieges hinzuwirken.

Dieser Auftrag kollidierte jedoch von Beginn an mit der schnöden Wirklichkeit. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt wurde Lichnowsky von dem britischen Außenminister Sir Edward Grey Anfang Dezember 1912 dahingehend gewarnt, daß England keineswegs eine Niederwerfung Frankreichs hinnehmen würde. Grey sprach diese Warnung in dem Wissen um die Intimität der englisch-französischen Beziehungen aus, das er dem Botschafter vorenthielt. Christopher Clark hat betreffs der Politik des Ministers den Begriff „double-track policy“ („The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914“, London 2012) gebraucht, der sich darauf bezieht, daß Grey insgeheim englisch-französische militärische Absprachen anbahnte, aber nach außen leugnete, daß irgendwelche Vereinbarungen mit Frankreich bestünden. 

Diese Doppelgleisigkeit manifestierte sich auch in anderer Hinsicht. Während Grey auf primärer Ebene konsequent eine Konsolidierung der Triple-Entente (England, Frankreich und Rußland) betrieb, bemühte er sich auf sekundärer Ebene – nicht zuletzt zur Beruhigung der teilweise äußerst kritisch gestimmten englischen Öffentlichkeit – auch um eine zumindest atmosphärisch spürbare Verbesserung des Verhältnisses zu Deutschland. Der absolute Primat der Bindung an die Entente blieb jedoch jederzeit unangetastet. 

Der anglophile Lichnowsky entwickelte enge persönliche Beziehungen zu Grey und vermeinte schon bald, ein Vertrauensverhältnis hergestellt zu haben. Und trotz der wiederholten Warnungen Greys vor einer englischen Intervention im Falle eines deutsch-französischen Krieges hielt er es für angebracht, positive Signale nach Berlin zu senden im Sinne einer zu erwartenden Umorientierung der Deutschlandpolitik des Inselreiches. 

Edward Grey führte Kabinett und Parlament jahrelang hinters Licht

Im Kontext des deutsch-englischen Zusammenspiels auf der im Dezember 1912 zur Beendigung des Balkankrieges eröffneten Londoner Botschafterkonferenz gab er sich der Illusion hin, England womöglich aus der Entente herauslösen zu können. In solchen Gedankenflügen überschätzte der von Eitelkeit nicht freie Lichnowsky seine Einflußmöglichkeiten erheblich. Das Buhlen um englische Neutralität, auf deren Zustandekommen der Reichskanzler Theobald v. Bethmann Hollweg bis unmittelbar vor Kriegsausbruch immer wieder energisch drängte, kam jedoch einer Selbsttäuschung gleich, hatte sich England doch von klassischer Gleichgewichtspolitik verabschiedet und war unter Greys Ägide längst zu einem fest integrierten Mitglied der Triple Entente geworden, deren fundamentale Tragweite nicht mehr in Frage gestellt wurde. Lichnowsky wollte nicht wahrhaben, daß Erfolge auf sekundärer Ebene wie die problematische Vereinbarung über die künftige Aufteilung der portugiesischen Kolonien und die englische Zustimmung zum Bau der Bagdadbahn die festgezurrten Positionen auf primärer Ebene nicht tangierten.

In seiner Denkschrift „Meine Londoner Mission 1912–14“ (1918) hat Lichnowsky den Charakter Sir Edward Greys geradezu verklärt. Darin rühmt er die Einfachheit und Lauterkeit von Greys Wesen, dem Lügen und Intrigen gleichermaßen ferngelegen hätten. Dieses idealisierende Porträt steht in krassem Gegensatz zu der Tatsache, daß Grey Kabinett und Parlament jahrelang systematisch hinters Licht geführt hat. Anfragen eines liberalen Abgeordneten betreffs der englisch-russischen Marinekonvention beantwortete Grey im Juni 1914 im Unterhaus mit einer die wahren Gegebenheiten verschleiernden Ausweichtaktik. Ähnlich verschlagen reagierte Grey auf Erkundigungen Lichnowskys in derselben Angelegenheit. Die Lichnowsky gegebene Zusicherung, in der heraufziehenden Krise mäßigend auf die russische Politik einzuwirken, hat er nicht eingelöst.

Ganz anders als der gutgläubige deutsche Botschafter schätzten einige unabhängige zeitgenössische Beobachter die Persönlichkeit des englischen Außenministers ein. So warnte der angloirische Schriftsteller George Bernard Shaw, wie in Harry Graf Kesslers Tagebüchern nachzulesen ist, Lichnowsky vergeblich vor dem Raffinement Sir Edward Greys. Besonders abschätzig fiel das Urteil des gut informierten Autors und Publizisten H.G. Wells über Grey aus, den er persönlich aus dem politischen Debattierklub der „Coefficients“ kannte und dem er mentale Fixierung attestierte. Wells’ belastendes Fazit über den von Lichnowsky in seiner Denkschrift zum Friedensfürsten hochstilisierten Grey lautet: „I think he wanted the war and I think he wanted it to come when it did“ („Experiment in Autobiography“, London 1934)! 

Lichnowskys unangebrachter Optimismus in der Einschätzung des Verhältnisses zu England trat auf kuriose Weise in der ebenso überraschenden wie vielsagenden Begegnung mit einem deutschen Englandbesucher zutage. Der renommierte, am politischen Geschehen regen Anteil nehmende Berliner Anglist Professor Alois Brandl kam im Sommer 1913 im Rahmen einer Goodwilltour mit hochrangigen Repräsentanten der englischen Politik und Gesellschaft in näheren Kontakt, die ihm die Augen für die Brisanz der deutsch-englischen Beziehungen öffneten, wie er in seiner Autobiographie berichtet. So sagte ihm der Sekretär der „Royal Academy of Arts“, daß die Gefahr eines Krieges zwischen beiden Ländern ungeheuer sei. Brandl wurde bedeutet, daß alle wüßten, was bevorsteht; nur der Berliner Botschafter täte so, als wüßte er es nicht. Insbesondere die Unterredung mit dem engen Vertrauten Greys und früheren Kriegsminister Lord Richard Haldane, dessen Berliner Mission im Februar 1912 gescheitert war, brachte ihm den Ernst der Lage zu Bewußtsein. Der mit einem wachen Gespür für die politischen Realitäten ausgestattete Brandl entschloß sich deshalb, um eine Audienz beim deutschen Botschafter nachzusuchen, um diesem seine Besorgnisse vorzutragen. Lichnowsky sprach etwas unwirsch von gerade jetzt sehr guten Beziehungen zwischen England und Deutschland und schloß dann mit dem Brandl unvergeßlich gebliebenen Satz, mit dem die Audienz kurzerhand beendet wurde: „Pflegen Sie Ihre Gelehrtenfreundschaften, so viel Sie wollen, aber lassen Sie die Politik aus dem Spiel“, zitiert ihn Alois Brandl („Zwischen Inn und Themse. Lebensbeobachtungen eines Anglisten“, Berlin 1936). Ein Jahr später war der Kladderadatsch da. 






Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Ezra Pound (JF 44/22).