Die Weltgeschichte ist zu großen Teilen eine Geschichte der Grenzen. Insofern ist es kein Zufall, daß sich weltgeschichtliche Umbrüche immer auch als Grenzveränderungen zeigen, man denke nur an den Fall des Eisernen Vorhangs. Grenzen grenzen aber nicht nur ab, sondern besitzen auch ein erhebliches Rückwirkungspotential auf die politische Struktur der jeweiligen Staatszentrale. So führte die extreme Bedrohung, der sich das Römische Reich im dritten nachchristlichen Jahrhundert an seinen Grenzen gegenübersah, zur Herausbildung des Soldatenkaisertums und der diokletianischen Reichsreform. Im Laufe der Geschichte waren Grenzen meist strittig und umkämpft, sie rückten vor uns zurück (wie etwa die deutsch-französische Grenze im Elsaß oder aktuell die Grenzen zwischen Armenien und Aserbaidschan). Manchmal verschwinden sie auch, wie etwa die Appalachengrenze, die das Territorium der Neuenglandstaaten vom Indianergebiet abgrenzte, so daß sich das Staatsgebiet bis zu seinen „natürlichen“ Grenzen (hier der Pazifik) ausbreitet.
Wie aber verhält es sich, wenn zwei Imperien in einer weitgehend unerschlossenen Region aufeinandertreffen? Wenn sie sich in einem politischen Niemandsland ausbreiten und vor der Aufgabe stehen, sich mit einem Antagonisten, der sich aus einer anderen Himmelsrichtung auf sie zubewegt, ins Benehmen zu setzen? So geschehen im ostsibirischen Raum, in dem im 17. Jahrhundert das russische Zarenreich und die Abgesandten der chinesischen Qing-Dynastie am Amur, in der Mandschurei und in Ostbaikalien aufeinandertrafen. Dieses Zusammentreffen und seine Geschichte ist das Thema des vorliegenden Buches.
Kein Zweifel, der Historiker Sören Urbansky (Universität Bochum) hat sein Herz an die sibirischen Weiten und ihre Menschen verloren, seitdem er 2002 zum ersten Mal mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Eurasien fuhr. Im Jahre 2021 hat der vormals am Deutschen Historischen Institut Washington tätige Autor seine Erfahrungen in seinem Buch „An den Ufern des Amur“ als informative Reisereportage vorgelegt. Das vorliegende Buch „Steppengras und Stacheldraht“ geht darüber hinaus und präsentiert eine Geschichte der chinesisch-russischen Grenze von den Kosaken bis Putin aus zwei miteinander kombinierten Perspektiven: einer politiktheoretischen und einer lokalgeschichtlichen.
Russische Ängste vor chinesischer Demographie und Wirtschaftskraft
Aus politiktheoretischer Perspektive fragt er nach den Wechselwirkungen von Zentrale und Peripherie, etwa nach den Auswirkungen der Revolutionen von 1911 und 1917 oder der stalinistischen Säuberungen auf die chinesisch-russische Grenze. Diese makrogeschichtliche Betrachtungsweise wird ergänzt durch eine sehr detaillierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Russen, Chinesen, Mandschuren, Burjaten, Mongolen und Koreaner vor Ort, denen es über weite Zeiträume hinweg gelang, ihr Leben in einer gewissen Autonomie zu gestalten. Dabei stützt sich der Autor nicht nur auf das Fachschrifttum, sondern auch auf bislang unausgewertete Quellen aus russischen und chinesischen Archiven. Entstanden ist ein voluminöses Standardwerk, in dem die Geschichte der chinesisch-russischen Grenze nicht nur historiographisch exakt, sondern auch mit großer erzählerischer Kraft entfaltet wird.
Diese Geschichte der chinesisch-russischen Grenze beginnt mit der Begegnung von Kosaken und chinesischen Bannerleuten im Argun-Grenzgebiet und den ersten Grenzverträgen von Nertschinsk (1689) und Kjachta (1728), in denen zwei gleichstarke Imperien auf Augenhöhe ihre Einflußsphären gegeneinander abgrenzen. Sie setzt sich fort mit dem Versuch beider Mächte, diese Grenzgebiete durch den Ausbau von Verkehrswegen und Siedlungsprojekten stärker an die Zentrale zu binden. Als das chinesische Kaiserreich im 19. Jahrhundert in die Krise gerät, verändert sich das Machtgleichgewicht zugunsten Rußlands. In den „ungleichen“ Verträgen von Aigun (1858) und Peking (1860) verliert China die nördliche Mandschurei und große Teile der nordpazifischen Küste. Seitdem bildet der Amur im wesentlichen die ostsibirische Grenze zwischen China und Rußland. Nach dem blutigen Zwischenspiel der japanischen Intervention und des sogenannten Kaiserreiches von Mandschuko wird die chinesisch-russische Grenze schließlich zur Nahtstelle zweier totalitärer Imperien, die trotz ritueller Freundschaftsbekundung alle Kraft daransetzen, ihre Grenzregionen zu russifizieren bzw. zu sinisieren. Im Jahre 1969 führt die Rivalität der beiden kommunistischen Vormächte am ostsibirischen Grenzfluß Ussuri sogar bis an den Rand eines Krieges.
Daß dieser Krieg letztlich ausblieb, hat nach Urbansky einen ganz einfachen Grund: die Implosion der sowjetischen Macht im allgemeinen und der russischen Präsenz in Ostsibirien im besonderen. Die aktuellen Beziehungen sind zwar von einem besseren Einvernehmen gekennzeichnet, das vor allem auf der gemeinsamen Gegnerschaft zu den USA beruht, aber die Machtgewichte haben sich stark verschoben. Im Hinblick auf Demographie, wirtschaftliches Gewicht und Entwicklungstempo spricht der Autor von einem mittlerweile „asymmetrischen Verhältnis, was auf russischer Seite Ängste und Vorbehalte weckt. Ein größerer Gegensatz als der zwischen den tristen Zuständen in der russischen Amurprovinz und der Glitzerwelt der mandschurischen Millionenstadt Harbin ist kaum vorstellbar. Auch wenn sich Urbansky mit apodiktischen Urteilen zurückhält, ergibt sich nach der Lektüre seines Buches ein eindeutiger Befund: Gegenüber dem chinesischen Koloß steht Rußland an seiner Ostgrenze auf verlorenem Posten, und es bleibt abzuwarten, welche Konflikte sich aus diesem zunehmenden Ungleichgewicht ergeben werden.
Sören Urbansky: Steppengras und Stacheldraht. Eine Geschichte der chinesisch-russischen Grenze. Hamburger Edition, Hamburg 2023, gebunden, 440 Seiten, 40 Euro