© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/23 / 27. Oktober 2023

Das deutsche Asylsystem in der Krise
Grenzwertige Rechtslage
Björn Schumacher

Das Rumoren in den Unionsparteien wird lauter. Namhafte Christdemokraten rücken von Merkels Willkommens-

putsch und ihrer Märchenerzählung „Wir schaffen das“ ab. Unter die Empörten mischte sich CDU-Chef Merz mit der verblüffenden Erkenntnis, das Asylrecht werde „hunderttausendfach mißbraucht“. Präsidiumsmitglied Jens Spahn hatte die Steilvorlage gegeben: „Deutschland braucht eine Pause von dieser völlig ungesteuerten Asyl-Migration. Wir können die Zahlen nicht nennenswert über Abschiebungen reduzieren. Daher braucht es ein klares Signal an der EU-Außengrenze: Auf diesem Weg geht es für niemanden weiter.“ Abgesehen davon, daß illegale Asyl-Migration nicht „pausieren“, sondern dauerhaft gestoppt werden sollte, setzt Spahn ein klares Ausrufezeichen. Das Wutgebrüll linker One-World-Ideologen bezeugte seinen Wirkungstreffer.

Heftige Reaktionen folgten auch einem Vorstoß des Ersten Parlamentarischen Geschäftsführers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thorsten Frei, zur Umgestaltung des europäischen Asylrechts. Offenbar wollen Sozialarchitekten der Ampel-Regierung und ihre polit-medialen Einflüsterer die verheerende Asyl-Migration nicht eindämmen. Krampfhaft versucht man, eine aus den Fugen geratene Hypermoral und die krachend gescheiterte Utopie einer multikulturellen Gesellschaft hochzuhalten. Dabei wird billigend hingenommen, daß die meisten Asylbewerber weder politisch verfolgt noch Kriegsflüchtlinge sind und erst recht nicht zu den Ärmsten und Schwächsten ihrer Heimatländer gehören. 

Ein Ende dieses Skandals ist nicht in Sicht. Als „Lüge“ und „Heuchelei“ brandmarkte Frei die deutsche Asylpraxis. Sie sei „zutiefst inhuman“ und führe zu einem „viel zu oft tödlich verlaufenden Wettlauf“ zur Antragstellung nach Deutschland. Statt dessen solle Europa „Schutzbedürftige direkt aus dem Ausland aufnehmen und auf die teilnehmenden EU-Staaten verteilen“. Ähnlich hatte sich der Migrationsexperte Ruud Koopmans geäußert und Kooperationsabkommen der EU mit den Herkunfts-, aber auch den Transitländern Tunesien, Marokko und der Türkei für unverzichtbar erklärt. Diese müßten sich zur Rücknahme irregulär weiterreisender Migranten verpflichten und dafür sorgen, daß auf ihrem Territorium Asylanträge an die EU gestellt werden können. Freis substantieller Vorschlag verdient eine genauere Analyse. Der CDU-Politiker will das Individualgrundrecht auf Asyl, Art. 16a Grundgesetz (GG), durch eine sogenannte Institutsgarantie mit begrenzten Aufnahmekontingenten in Europa ersetzen. Der phrasenhaften Arroganz und Hypermoral der Refugees-welcome-Liga („Menschlichkeit kennt keine Obergrenze“, so etwa Merkel 2017 in Richtung Horst Seehofer) könnte damit der verfassungsrechtliche Boden entzogen werden. Frei nennt ein jährliches Kontingent von 300.000 bis 400.000 Asylberechtigten, das auf die teilnehmenden EU-Länder zu verteilen wäre.

Über diese hohe Zahl mag man streiten; grundsätzliche Bedenken lassen sich daraus nicht herleiten. Erstaunlicherweise findet Frei in seiner eigenen Partei kaum Unterstützer. Auch von der AfD kam kein Rückenwind für den Vorschlag, deutsches und europäisches Asylrecht auf dem Boden einer Institutsgarantie neu zu denken. Diese Zurückhaltung sollte aufgegeben werden. Zwar trifft es zu, daß die Asyl-Misere im Kern auf Merkels „Grenzöffnung“ von 2015 ff. beruht und der fortdauernde Bruch von Art. 16a Grundgesetz und geltendem EU-Recht (Dublin-III-Verordnung) mit seinem Prinzip sicherer Herkunfts- und Drittstaaten korrigiert werden sollte. Die Vorzüge einer Asyl-Institutsgarantie sind deshalb aber nicht vom Tisch, zumal die EU-Staaten hier spontaner kooperieren dürften als bei der Deutschland begünstigenden Dublin-III-Lösung. Wer den verfahrenen „Asyl-Karren“ flottmachen, also die Asyl-Migration steuern und signifikant begrenzen will, braucht ein ganzes Maßnahmenpaket.

Alle Migrationsanreize („Pullfaktoren“) müssen auf den Prüfstand. Ausweitungen des Familiennachzugs gehören ebenso dazu wie der erleichterte Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft, also die wundersame „Deutschwerdung der Nun-halt-da-Seienden“. Einmal mehr erweist sich die Ampel, die solche Projekte eifernd vorantreibt, als Geisterfahrer eines parareligiösen Universalismus. Stärkster Pullfaktor ist der deutsche Wohlfahrtsstaat. Eine Ausdünnung des Wildwuchses von Sozialleistungen hätte daher Priorität. Die Ampel veranstaltet aber das Gegenteil; und die Lindner-FDP mit ihrem Wählerauftrag, dem rot-grünen Schwungrad in die Speichen zu greifen und dessen ökonomischen Unverstand einzuhegen, versagt auf ganzer Linie. Dank des neuen, zuletzt sogar erhöhten „Bürgergelds“ für Personen, die in keinem Arbeitsverhältnis stehen, und der geplanten Einführung einer üppigen Kindergrundsicherung rast der Transferleistungsexpreß ungebremst weiter.

Nutznießer sind überproportional Migranten, darunter abgelehnte (geduldete) Asylbewerber, die beachtliche Teile des vom Steuerzahler erwirtschafteten Geldes in ihre Herkunftsländer überweisen. Neben einer Begrenzung der Asyl-Migration liegt ein weiterer, bislang kaum diskutierter Vorteil der Institutsgarantie im Abschneiden ausufernder Klagemöglichkeiten. Die quälend langen Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit bis hin zu einer möglichen Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe hätten ein Ende. Da der aktuelle Art. 16a GG ein individuelles Recht auf Asyl normiert, gilt hier automatisch Art. 19 Abs. 4 GG: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ Bei einer Institutsgarantie gäbe es keinen Rechtsweg mehr − abgesehen davon, daß der Asylstatus der in ihren Herkunfts- oder Transitstaaten abgeholten Migranten möglichst dort zu überprüfen wäre. Gibt es juristische Einwände gegen die Institutsgarantie? Würde diese gegen Verfassungs- oder Völkerrecht verstoßen?

Nein. Der hier einschlägige Art. 14 Abs. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) ist kein bindendes „Hard Law“ und verleiht auch kein Individualrecht auf Asyl. Er lautet: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen.“ Das muß man zweimal lesen. „Asyl suchen“ und (freundlicherweise gewährtes) „Asyl genießen“ − wohlweislich haben die UN-Vertragsstaaten darauf verzichtet, Art. 14 AEMR als einklagbaren Anspruch des Asylsuchenden gegen einen Staat zu gestalten. Auch die Menschenwürde des Art. 1 GG hindert die Einführung einer Institutsgarantie nicht. Die Menschenwürde Asylsuchender verletzt der Verfolgerstaat, nicht aber die das Asyl verweigernde Bundesrepublik Deutschland.

Nach der vom kategorischen Imperativ geprägten „Objektformel“ liegt ein Verstoß gegen die Menschenwürde vor, wenn eine Person nicht als Ziel und Zweck staatlichen Handelns, sondern als bloßes Mittel zu anderen Zwecken behandelt wird. Davon kann angesichts begrenzter Aufnahmekapazitäten keine Rede sein. Selbst eine komplette Streichung des Asylrechts aus dem Grundgesetz würde nicht gegen Art. 1 GG oder andere Verfassungsnormen verstoßen. Zu beachten bleibt aber das „Refoulement-Verbot“ des Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), also das Verbot der Ausweisung oder Zurückweisung eines Flüchtlings in Gebiete, in denen ihm Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit drohen. Die praktischen Auswirkungen dieses Verbots kommen einem Individualrecht auf Asyl nahe. Wer Migranten an der Grenze zurückweisen oder nach ihrer Einreise ausweisen will, muß in jedem Einzelfall prüfen, ob solche Gefährdungen vorliegen. Als problematisch gelten auch spontane Zurückschiebungen („Pushbacks“) im Mittelmeer zur afrikanischen Küste.   Allerdings dürfte Freis Modell einer Institutsgarantie das Refoulement-Problem nur in Ausnahmefällen tangieren. Er will „Schutzbedürftige direkt aus dem Ausland aufnehmen“, vernünftigerweise also in ihren Herkunfts- oder Transitländern abholen lassen.

Aus- oder Zurückweisungen im Sinne des Refoulement-Verbots können dabei kaum vorkommen. Davon abgesehen: Gut gemeint ist nicht das gleiche wie gut gemacht. Wer Pushbacks pauschal für völkerrechtswidrig erklärt, läßt außer acht, daß sie per Saldo mehr Menschenleben retten als zerstören. Konsequente Pushbacks würden das Geschäftsmodell krimineller Schlepperbanden kurzerhand beenden. Das Sterben der „Boat People“ im Mittelmeer wäre vorüber. Art. 33 GFK in seiner aktuellen Fassung ist kein in Stein gemeißeltes Natur- oder Gottesrecht. Sachdienliche Klarstellungen und Novellierungen bieten sich an. Äußerstenfalls können sich Staaten per Kündigung aus der Genfer Flüchtlingskonvention verabschieden. Jenseits juristischer Klärungen bleibt ein Dilemma: Wie will eine in den Abgründen schwarz-grüner Koalitionen gefesselte CDU woken Utopismus in Asyl- und Migrationsfragen abwehren? Wie lange noch kann „Oberbrandmeister“ Friedrich Merz der Frage ausweichen, ob seine Abgrenzung zur AfD klug ist?

Diese „falsche Brandmauer“ (Andreas Rödder, Ex-Chef der CDU-Grundwertekommission) erschwert unverzichtbare Weichenstellungen für unser Land und fördert die Ausgrenzung von Abermillionen Bürgern. Immerhin, ein „langsamer politischer Klimawandel“ in der CDU bahnt sich an. Ihre östlichen Landesverbände spüren, daß die von „Leitmedien“ mit angemaßter Diskurshoheit befeuerten Strategien der Merkel-Ära nicht mehr zünden. Die berüchtigte Nazi-Keule wird zum stumpfen Schwert. Wenn nicht jetzt, wann dann soll die CDU aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit und der Rolle als Befehlsempfängerin grüner Meinungsfürsten ausbrechen, in die sie durch ihre Neuaufstellung als „moderne Großstadtpartei“ und die damit verbundene programmatische Entkernung geraten ist?






Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ausgebilderter Jurist, arbeitet als Publizist in Saarbrücken. Zuletzt von ihm erschienen ist das Buch „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg: Morale Bombing im Visier von Völkerrecht, Moral und Erinnerungskultur“.