Am 31. Januar 1964 veröffentlichte das in New York erscheinende Life Magazine einen Artikel über Roy Lichtenstein, in dem unter anderem die Frage aufgeworfen wurde: „Ist er der schlechteste Maler Amerikas?“ Allerdings war zu diesem Zeitpunkt längst klar, daß es bei dem Künstler keineswegs mehr nur um die plumpe Zuordnung zu den Kategorien „gut“ oder „schlecht“ gehen konnte. Denn der am 27. Oktober 1923 in Manhattan geborene Sohn eines jüdischen Immobilienmaklers galt inzwischen neben Andy Warhol als Ikone der Pop Art, jener modernen Kunstrichtung, deren Wurzeln vorrangig in den USA der fünfziger Jahre lagen. Wobei die Pop Art für eine dezidierte Abkehr von allem Intellektuellen in der Bildenden Kunst und für die Hinwendung zum trivial Knalligen, klar Objektbezogenen sowie kommerziell Plakativen stand, ohne freilich der Konsum- und Massengesellschaft auf naiv-distanzlose Weise zu huldigen.
Andererseits gehörte Lichtenstein aber nicht zu den absoluten Vorreitern der Pop Art, sondern wurde erst mit 38 Jahren durch einen „intellektuellen Geistesblitz“ veranlaßt, sich auf diese Weise auszudrücken. Dem gingen lange Zeiten der relativen Erfolglosigkeit voraus, in denen der Künstler rastlos experimentierte: Seinen ersten, noch sehr konventionellen malerischen und zeichnerischen Versuchen ab 1937 folgten 1940 abstrakte Arbeiten und 1943 Porträts im Stile Picassos.
Durchbruch mit Mickey Mouse und Donald Duck
Dann mußte Lichtensteins Kunststudium an der Ohio State University infolge der Einberufung zum Militär ruhen. Zunächst sollte er zum Piloten ausgebildet werden, doch statt dessen versetzte man ihn schließlich in die Geheimdienstabteilung der 69. Infanteriedivision. Dort lautete sein Auftrag, an der Herstellung von Landkarten mitzuwirken. Später diente der Private First Class Lichtenstein in Frankreich, Belgien und Deutschland, bevor er im März 1946 an die Universität zurückkehrte und drei Monate darauf seinen Abschluß machte.
Anschließend ging die Suche nach dem eigenen Stil unentwegt weiter: Mal entstanden nun eher märchenhafte Motive und mal Selbstporträts als Ritter oder ähnliche Kuriositäten. Dann verfiel Lichtenstein darauf, typisch amerikanische Sujets wie Westernszenen auf kubistische Weise zu verfremden. Seine Produktivität brachte ihm 1951/52 erste Einzelausstellungen in New York und anderswo ein, welche bei den Kritikern jedoch meist abwehrende Reaktionen auslösten. So hieß es im Feuilleton der Cleveland News, Lichtensteins Bilder erinnerten an das „Kritzeln eines Fünfjährigen“. Daher konnte der Künstler auch nicht vom Malen leben und mußte sein Geld als technischer Zeichner sowie Designer von Schildern für Konservendosen verdienen. Parallel dazu näherte er sich ab 1956 dem Pop-Art-Stil an – dies beweist beispielsweise das Bild eines stark abstrahierten Zehn-Dollar-Scheins. Dennoch blieb die Resonanz weiter tendenziell schlecht, woraufhin Lichtenstein begann, Comic-Figuren zu zeichnen.
Im Sommer 1961 stand er künstlerisch und somit auch finanziell mit dem Rücken zur Wand. Der Traum von einer großen Karriere schien geplatzt und die Versorgung seiner Kleinfamilie wurde für den Freizeitmaler mit diversen Aushilfsjobs immer schwieriger. In dieser Situation passierte das, was in der Kunstgeschichte nachfolgend in mystischer Überhöhung zur „Lichtenstein-Erweckung“ verklärt wurde: Die beiden kleinen Söhne des Malers, David und Mitchell, baten ihren Vater darum, ein winziges Comic-Bildchen aus einer Kaugummipackung auf ungefähr 50 mal 70 Zoll zu vergrößern, woraufhin Lichtensteins Schlüsselwerk „Look Mickey“ entstand, das Mickey Mouse und Donald Duck beim gemeinsamen Angeln zeigt.
Die raffiniert vereinfachte Reproduktion des Comic-Motivs unter Beibehaltung der typischen Sprechblase bei gleichzeitiger Reduzierung auf das Wesentliche in Form und Farbe wurde von der Kritik als radikal, revolutionär, urkomisch hinterlistig, erfrischend respektlos sowie in seiner Klarheit nachgerade erhaben bezeichnet. Damit erlebte Lichtenstein, der im gleichen Jahr noch sechs weitere Bilder dieser Art produzierte, nun den großen Durchbruch: Als die Kunstwerke 1962 ausgestellt wurden, fanden sich sofort prominente Käufer, und der Maler konnte seitdem tatsächlich von seinen Schöpfungen leben.
Dabei begann er schon 1964, den neu entwickelten Comic-Stil weiter zu abstrahieren und mit starken schwarzen Linien und punktierten Flächen zu spielen, wodurch Bilder entstanden, welche wie Comic-Versionen von Werken Picassos und anderen weltbekannten Malern wirkten. Dann wiederum löste sich Lichtenstein von der Comic-Attitüde seines Œuvres und schuf Werke im impressionistischen, konstruktivistischen, puristischen, surrealistischen und kubistischen Stil. Außerdem verwendete er jetzt auch verstärkt andere beziehungsweise größere Untergründe als nur Leinwände. Davon zeugen beispielsweise das Außendesign für einen Rennwagen von BMW sowie die monumentale Meerjungfrau auf dem Rumpf der Segelyacht „Young America“. Ebenso kreierte Lichtenstein Skulpturen wie „Barcelona Head“ nach dem Vorbild Antoni Gaudis aus farbigen Keramikfliesen, Metall, Holz und Plastik.
Anbiedernde Alltagsästhetik
mit subversiven Zügen
1982 wiederum erweiterte der Pop-Art-Künstler das reichhaltige Repertoire seiner Maltechniken um die sogenannten Benday Dots, welche eigentlich für den industriellen Druck entwickelt worden waren: An die Stelle von Farbflächen traten viele kleine farbige Punkte, womit es sich hier quasi um eine postmoderne Form des Pointillismus handelte. Damit endete der Ideenreichtum Lichtensteins allerdings nicht. So trug er die Farbe versuchsweise auch mit einer Hundepflegebürste auf oder nutzte Airbrush-Pistolen, um feinste Farbverläufe zu erzielen.
Lichtensteins eminente Bedeutung für die Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts äußerte sich unter anderem in der Verleihung des Kyoto-Preises 1995, der als eine Art Nobelpreis für Maler gilt, sowie dem Umstand, daß das weltbekannte Museum of Modern Art in New York City 1987 eine große Ausstellung mit Werken von Lichtenstein veranstaltete – womit erstmals in der Geschichte des MoMA ein lebender Künstler gewürdigt wurde.
Als Lichtenstein am 29. September 1997 im Alter von 73 Jahren im New York University Medical Center an den Folgen einer Lungenentzündung starb, hinterließ er ein Gesamtwerk von 4.500 Objekten, wobei das Gemälde „Masterpiece“ seitdem den höchsten Auktionserlös erzielte: Es wechselte 2017 für 165 Millionen US-Dollar den Besitzer.
Heute gilt Lichtenstein als Künstler, der einerseits Traditionsbrüche am laufenden Band wagte, weil er nicht davor zurückschreckte, das Werk vieler malerischer Genies der Vergangenheit zu verfremden, und andererseits mitten im Strom der amerikanischen Mentalität in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schwamm. Diese war durch große Empfänglichkeit für aufdringliche visuelle Werbebotschaften, eine überaus simple kapitalistische Konsumhaltung sowie die Dominanz von Stereotypen jeglicher Art geprägt.
Dabei wird freilich übersehen, daß Lichtensteins scheinbare anbiedernde Alltagsästhetik viele subversive Züge aufwies. Die demonstrative Vulgarität, mit der er industriell-kommerzielle Alltagsobjekte zum Gegenstand künstlerischer Darstellungen erhob, und die nachgerade kaltschnäuzig wirkende Nivellierung aller individuellen Züge der von ihm dargestellten Personen zugunsten der Präsentation von ewig gleichen Archetypen vermeintlich „schöner“ Menschen, war natürlich als Kritik an der Oberflächlichkeit oder Borniertheit seiner Zeitgenossen gedacht.
Das gilt analog für Lichtensteins Kriegsbilder wie das euphorisch gefeierte „Whaam!“. Das 1963 entstandene Diptychon, ein zweiteiliges Werk, zählt zu seinen bekanntesten Arbeiten. Es zeigt auf der linken Leinwand ein Kampfflugzeug, das eine Rakete abfeuert, die auf der rechten Seite ein anderes Flugzeug trifft, das in einem Feuerball explodiert. Lichtenstein bestritt offiziell, damit „militärische Aggressivität in einem absurden Licht darstellen“ zu wollen, und behauptete, lediglich das Ziel zu verfolgen, die „amerikanische Definition von Bildern und visueller Kommunikation“ zu zeigen. Insofern besteht kein Anlaß, die Produkte von Lichtensteins „Anti-Malerei“ auf „Chiffren einer Welt, in der es nichts Neues zu sagen und zu malen gibt“, zu reduzieren, wie es der Spiegel Anfang Oktober 1997 in seinem Nachruf auf den Künstler („Schocktherapie mit Pop“) tat.