Der Appell zur Verteidigung der Meinungsfreiheit, der seit dem 18. Oktober als „Westminster Declaration 2023“ im Netz kursiert, ist ein Weckruf in später, vielleicht allzu später Stunde. Er formuliert einen flammenden Protest gegen die sukzessive Abschaffung der Meinungsfreiheit, die ein Menschenrecht und die Grundlage einer freien Gesellschaft ist.
Die Erklärung geht auf ein internationales Treffen „von Verfechtern der Meinungsfreiheit“ im Juni 2023 in Westminster, London, zurück. „Wir kommen von links, rechts und aus der Mitte und sind uns einig in unserem Bekenntnis zu den universellen Menschenrechten und zum Recht auf freie Meinungsäußerung, und wir sind alle zutiefst besorgt über die Versuche, geschützte Meinungsäußerungen als ‘Fehlinformation’, ‘Desinformation’ und mit anderen schlecht definierten Begriffen zu bezeichnen.“
Es geht hier, wohlgemerkt, nicht um explizite Diktaturen – deren Kritikwürdigkeit wird vorausgesetzt –, sondern um den sogenannten freien Westen. „Weltweit arbeiten staatliche Akteure, Social-Media-Unternehmen, Universitäten und Nichtregierungsorganisationen verstärkt daran, die Bürger zu überwachen und ihnen ihre Stimme zu nehmen. Diese großangelegten und koordinierten Bemühungen werden manchmal als ‘industrieller Zensurkomplex’ bezeichnet.“ Dazu gehörten die Filterung der Sichtbarkeit, die Kennzeichnung und die Manipulation von Suchmaschinenergebnissen. Durch das Markieren oder den Ausschluß von Personen oder Gruppen aus den sozialen Netzwerken hätten die Zensoren dort bereits „legitime Meinungen zu Themen von nationaler und geopolitischer Bedeutung zum Schweigen gebracht“. Und weiter: „Sie taten dies mit voller Unterstützung der ‘Desinformationsexperten’ und ‘Faktenprüfer’ in den Mainstream-Medien, die die journalistischen Werte der Debatte und intellektuellen Auseinandersetzung aufgegeben haben.“
Die Deklaration listet Selbstverständlichkeiten auf, die heute massiv in Frage gestellt werden. Zum Beispiel, daß niemand ein Monopol auf die Wahrheit besitzt. Was heute unpopulär ist oder als falsch gilt, kann sich morgen als richtig erweisen und allgemeiner Konsens werden Die Einschränkung der Meinungsfreiheit ist häufig der Vorbote von Tyrannei gewesen. „Die Zensur im Namen des ‘Schutzes der Demokratie’ verkehrt das System der Repräsentation, das von unten nach oben verlaufen sollte, in ein System der ideologischen Kontrolle von oben nach unten. Diese Zensur ist letztlich kontraproduktiv: Sie sät Mißtrauen, fördert die Radikalisierung und delegitimiert den demokratischen Prozeß.“
Unter Hinweis auf den ersten Verfassungszusatz der USA aus dem Jahr 1791 heißt es: „Man muß nicht in allen Fragen mit den USA übereinstimmen, um anzuerkennen, daß (die Meinungsfreiheit) eine wichtige ‘erste Freiheit’ ist, aus der sich alle anderen Freiheiten ableiten. Nur durch die Meinungsfreiheit können wir Verletzungen unserer Rechte anprangern und für neue Freiheiten kämpfen.“ Die Stellungnahme atmet den Geist Voltaires: „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, daß Sie sie äußern dürfen.“
Die 137 Unterzeichner sind vornehmlich Wissenschaftler, Künstler, Journalisten, Publizisten, darunter die Frauenrechtlerin und Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali, der inhaftierte Wikileaks-Gründer Julian Assange, der britische Historiker Niall Ferguson, der Psychologe Jordan B. Peterson. Unterschrieben haben weiterhin der US-Schauspieler Tim Robbins, der im russischen Exil lebende Whistleblower Edward Snowden, der frühere griechische Minister Yanis Varoufakis, Filmegisseur Oliver Stone und der slowenische Philosoph Slavoj Žižek. Die bekannteste Vertreterin aus Deutschland ist die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die ein Medienliebling war, solange sie für nahöstliche Einwanderer in der vorpommerschen Pampa ein Neu-Aleppo errichten wollte. Seit sie das Corona-Regime und den Umgang mit dem Ukraine-Krieg kritisiert, ist sie der öffentlichen Ächtung überantwortet.
Die Demontage der Meinungsfreiheit ist längst über das Versuchsstadium hinaus. Heute stellt sich die Frage, ob der eingetretene Schaden überhaupt noch reversibel ist. Sie ist ein internationales Phänomen. Die US-Journalistin und Mitunterzeichnerin Bari Weiss verließ 2020 unter Protest die New York Times, die lange zu den Hauptmedien der liberalen Demokratie zählte. In Uwe Johnsons „Jahrestage“ erscheint sie wie „eine Tante aus vornehmer Familie“. Bari Weiss kündigte ihre Mitarbeit auf, weil das Blatt heute von der woken Orthodoxie der „Erleuchteten“ beherrscht wird.
Zu den „Erleuchteten“ in Deutschland zählt Bundeskanzler Scholz, der in seiner Regierungserklärung vom Dezember 2021 die aus seiner Sicht schlimmsten Übel aufzählte: „(D)as ist Wirklichkeitsverleugnung, das sind absurde Verschwörungsgeschichten, mutwillige Desinformation und gewaltbereiter Extremismus.“ Dahinter stünde eine „kleine extremistische Minderheit“ , die sich vom Staat, der Gesellschaft, der Demokratie, „von Wissenschaft, Rationalität und Vernunft“ verabschiedet hat. „Dieser winzigen Minderheit der Haßerfüllten, die mit Fackelmärschen, mit Gewalt und Morddrohungen uns alle angreift, werden wir mit allen Mitteln unseres demokratischen Rechtsstaats entgegentreten. Unsere Demokratie ist eine wehrhafte Demokratie.“ Scholz, der wehrhafte Demokrat, glaubt allen Ernstes, die Wahrheit, die Vernunft und den klaren Blick auf seiner Seite zu haben.
Die „winzige Minderheit“ erfordert einen Riesenaufwand, was kein Wunder ist, denn sie ist bloß der Pappkamerad. Der wirkliche Feind ist die Realität selbst. Wer es in der Vergangenheit wagte, auf die Folgen der Masseneinwanderung für die innere Sicherheit, die Sozialsysteme, die Bildung hinzuweisen, wurde als „Panikmacher“ und rassistischer Greuelpropagandist stigmatisiert. Jetzt wird die Neuordnung der Machtverhältnisse, die sich in Stadtvierteln in Paris, Göteborg und Berlin unter der Hand längst vollzogen hat, öffentlich. Wer glaubt, daß der Politik-, Medien- und Zensurkomplex sich deshalb zur Einsicht und Umkehr veranlaßt sehen würde, hat dessen Handlungslogik falsch verstanden. Er kann die Wirklichkeit, die jetzt vollends aus dem Ruder läuft, zwar nicht einfangen, doch er wird seine Definitionshoheit und die Macht, die Grenzen des Sag- und Denkbaren zu ziehen, mit Klauen und Zähnen verteidigen.
Zu dem Zweck werden milliardenschwere, vorgebliche Demokratieprogramme aufgelegt, wird die Zahl der „Beauftragten“ aufgebläht, werden der Verfassungsschutz und die Justiz auf die Fährte gesetzt. Weil das nicht ausreicht, wird die sogenannte Zivilgesellschaft zur Aufspürung von Gedankenverbrechern aktiviert. Mit im Boot sind auch transnationale NGOs und Stiftungen, hinter denen wiederum Milliardäre stehen, die den teuersten Champagner, die exklusivsten Ferieninseln, die skurrilsten Partys satt haben und zur Abwechslung Gott spielen wollen.
Das zivilgesellschaftliche Fußvolk bilden die „jungen Kreativen“, bei denen es sich um ein akademisches Prekariat mit sinnfreien Abschlüssen und ohne brauchbare Fähigkeiten und Fertigkeiten handelt. Daher sind sie, wie der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen in der Vierteljahresschrift Tumult (Frühjahr 2023) schreibt, „oft ohne festen Job und ohne sehr viel Geld, immer auf dem Sprung zwischen zwei Aufträgen oder zwei Projekten“. Sie bilden eine „Reservearmee des Parteienstaates“. Um ihre Nützlichkeit unter Beweis zu stellen, bleibt ihnen nur, „klare Kante im Internet“ zu zeigen bei Themen, die ohnehin angesagt sind, zum Beispiel Geschlechtervielfalt, Klimaschutz, Kampf gegen Rechts. „Da gibt es keinen Widerspruch, aber jede Menge zu entdecken, Abweichler, wohin man auch scrollt.“ Damit buhlen sie um einen Job in staatlichen Stiftungen oder bei staatsnahen Medien.
Um das woke „Sprachregime“ (Michael Esders) durchzusetzen, reicht es nicht, eine bestimmte Sprache in Endlosschleife zu verbreiten. Man muß auch verhindern, daß alternative Medien groß werden und sich als echte Konkurrenten etablieren. Ihr Niveau liegt häufig weit über dem der sogenannten Qualitätsmedien, doch ihr Einflußes auf öffentliche Diskurse und politische Entscheidungen tendiert gegen null. In dieser Hinsicht führen sie eine Katakombenexistenz. Entscheidend bleiben die Leitmedien. Sie definieren und verbreiten, „worauf wir bei jeder Begegnung zugreifen könne, ohne Angst haben zu müssen“. (Michael Meyen) Sie schlagen Alarm, wenn Meinungsabweichler in bekannten Verlagen, Hörsälen, Fernsehsendungen oder großen Internet-Plattformen auftreten, weil deren institutionalisierte Autorität die dissidentische Resonanz vergrößern könnte. Dann treten die Cancel Culture und das Deplatforming in Aktion.
Über die „Westminster Declaration 2023“ ist in der Bundesrepublik der Mantel des Schweigens gedeckt. Einzig die Welt – die sich hin und wieder einen Alibi-Text leistet –, das Magazin Cicero sowie mehrere kleine Internet-Blogs haben darüber berichtet. Auf Cicero Online hieß es dazu treffend, daß ein Großteil der Medien über diese Westminister-Erklärung gar nicht berichte, unterstreiche die These ihrer Initiatoren.
Der Weckruf bleibt also – zumindest vorläufig – ungehört. So und nicht anders sind die realen Machtverhältnisse.