Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel: Über mehr als 500 Kilometer reicht die Küste der Westtürkei von den Dardanellen im Norden bis hinunter zur Hafenstadt von Marmaris im Südwesten. Dahinter: das Meer der Ägäis und die Inseln Griechenlands, die die 3,7 Millionen in der Türkei lebenden Syrer sowie Zehntausende weiterer Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika wieder zunehmend als Ziel vor Augen haben.
Griechenland, das bedeutet für sie, in der Europäischen Union angekommen zu sein. Es ist die Eintrittskarte für die Weiterreise in Länder wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. „Vor allem Deutschland ist aufgrund seiner hohen Sozialleistungen natürlich sehr attraktiv“, weiß auch Halit längst zu berichten. Wie in der vorigen Ausgabe berichtet, transportiert der 32jährige für Schleuser Migranten über die Ägäis.
Helfer der Menschenschmuggler erledigen demnach den Rest auf hoher See, bringen ihre „Klienten“ in Nacht-und-Nebel-Aktionen an die Küsten der Inseln von Lesbos, Chios, Samos, Kos oder neuerdings auch Rhodos. „Die Aktionen laufen zumeist zwischen 2 und 6 Uhr morgens. Die Griechen haben auf den Bergen ihrer Inseln Militärstationen mit einem engen Netz an Beobachtungsposten aufgestellt, auch Drohnen und Radar kommen zum Einsatz“, schildert Halit. Im Schutz der Dunkelheit und mit hohen Bestechungsgeldern an die türkischen und griechischen Patrouillen werde der Erfolg der Überfahrt sichergestellt.
Die Schleuser würden auf beiden Seiten operieren, hätten Zuträger bei Polizei, Militär und Küstenwache und bei Fährbetreibern. „Wer das nicht hat, wird entweder von der türkischen Küstenwache aufgegriffen oder spätestens von griechischen Patrouillenschiffen erwischt und zurück in Richtung türkische Gewässer abgedrängt“, meint Halit.
Die Aufnahme der Migranten erfolge außerhalb der Hafenstädte, an menschenleeren Küstenabschnitten. Per Schlauchboot versuche man die Überfahrt dann entweder direkt, oder die Schleuser steuerten auf See Boote wie seines an, wenn sie die teurere und dafür sicherere Version gewählt haben.
Vorgänge, die sich rund um Bodrum und zahlreichen weiteren türkischen Häfen abspielen. Etwa in dem kleinen, verschlafenen Hafen von Kuyucak, gerade einmal zehn Kilometer von Bodrum entfernt, wo die türkische Küstenwache und die Gendarmerie Mitte dieses Monats 48 Migranten und zwei Schleuser dingfest gemacht hatte. Die Gruppe hatte versucht, mit einem Segelboot nach Kos zu gelangen.
Am gleichen Wochenende hatten fünf Migranten nahe dem weiter nördlich gelegenen Hafenstädtchens Kusadasi den tollkühnen Versuch unternommen, schwimmend die griechische Insel Samos zu erreichen. Sie wurden von der türkischen Küstenwache ebenso erwischt wie 25 weitere illegale Zuwanderer, die es mit einem Schlauchboot bis zur Insel schaffen wollten. Eine Drohne hatte die Überfahrt jedoch entdeckt.
Wieder einen Tag zuvor registrierte das mobile Radar eines türkischen Küstenwachschiffes gegen 3 Uhr morgens 22 Migranten vor der Küste Bodrums auf dem Weg Richtung Kos. 19 weitere Einwanderer hatten zeitgleich versucht, mit einem Rettungsfloß nach Kos zu gelangen. Eine griechische Patrouille drängte sie zurück in türkische Gewässer. Ebenfalls am gleichen Wochenende versuchten vor Bodrum 62 Migranten mit Schlauchbooten die Überfahrt nach Kos. Die türkische Küstenwache hatte auch sie erwischt.
Fälle, die lediglich das beschreiben, was sich an nur einem einzigen Wochenende zwischen dem 13. und 15. Oktober allein in dem Gewässerabschnitt zwischen Kos und Samos ereignete. Ähnliches vollzieht sich weiter nördlich rund um Lesbos in noch größerer Anzahl. Selbst kleinere, spärlicher besiedelte Inseln vermelden mittlerweile ankommende Einwanderer.
Die Küstenwache gibt ihr Bestes, den Einwanderersturm abzuhalten
Vorgänge, von denen die Touristen in Bodrum nichts mitbekommen. Kein Migrant ist in der Hafenstadt zu sehen. Zumindest nicht in der Form, daß man sie als solche erkennen würde. Ähnlich sieht es auf der gegenüberliegenden Seite auf der griechischen Insel Kos aus. Touristen, darunter zahlreiche Deutsche, schlendern durch die engen Gassen mit ihren landestypischen blau-weißen Häusern. Fähren und Ausflugsboote fahren im Hafen ein und aus. Nur Patrouillenboot P 286 zeugt davon, daß sich hier noch etwas anderes abspielt als die Bespaßung von Urlaubern.
Während es auf türkischer Seite vor allem die lange verwinkelte Küste und die zumeist in der Nacht erfolgenden Überfahrten sind, die die zahlreichen Abfahrten für viele verbergen, gibt es auf der griechischen Seite noch einen anderen Grund. Einen, der weitab des Zentrums im Inselinneren nahe dem Dorf Pyli liegt. Dort befinden sich das Closed Controlled Access Center (CCAC) sowie das Pre-Removal Detention Center (PROKEKA). Beide Einrichtungen zusammen bieten Platz für insgesamt 2.000 Migranten.
Der Ort: abgelegen in der tiefsten Einöde. In das Dorf Pyli fährt der Linienbus nur sporadisch, am Nachmittag und in den Abendstunden geht gar nichts. Auch das ist ein Grund, warum von Migranten im Zentrum kaum etwas zu sehen ist. Per Taxi fahren wir in die entlegene Gegend. 30 Minuten durch die Einöde. Der Fahrer, ein Mann um die 30 mit markantem schwarzen Vollbart, lebt schon länger hier, kann sich noch gut an 2015 erinnern, als Migranten an Stränden und rund um den Hafen wild kampierten und die behördliche Infrastruktur kollabierte. Die JF berichtete damals vor Ort.
„Das hat die Menschen hier geprägt, so etwas wollen wir hier niemals wieder haben“, erzählt er. Er erinnert sich: „Die afghanischen Migranten hatten ständig Krach mit den Pakistanis, jeden Abend kam es zu Schlägereien zwischen verfeindeten Gruppen.“ Die Einheimischen hätten sich abends nicht mehr aus dem Haus getraut.
Ein Aspekt, der in deutschen Medien nur selten thematisiert wird. Der aber erklärt, warum Griechenland mit Pushbacks und geschlossenen Hotspots fernab der Zivilisation so drastisch reagiert. Kurz vor Pyli wird dann auch auf Kos die Asylkrise erstmals sichtbar.
Immer häufiger laufen jetzt Gruppen junger Männer am Straßenrand entlang, drei, vier, manchmal fünf Personen. Sie pendeln zwischen Hotspot und Dorf. Es sind jene, die illegal eingereist sind, aber über einen gültigen Paß verfügen. Ihnen ist tagsüber der Ausgang gestattet. Jene ohne Paß müssen sie hinter den mächtigen Mauern des Migrationscamps bleiben. Ein Camp, das einem Gefängnis gleicht. Hohe, endlos lange Zäune, mit Stacheldraht versehen, umgeben das Terrain. In das Camp hinein zu fotografieren ist verboten. Auch der Zutritt wird der JF verwehrt.
Smalltalk mit einem Mitarbeiter vom Wachpersonal. Die Stimmung ist zunächst eisig. Man hat hier keine guten Erfahrungen mit Journalisten und NGOs gemacht. Weil die Geschichten immer gleich lauten würden. „Wir, die bösen Griechen und da die armen Migranten, so läuft das immer, es ist stets dasselbe“, beschwert sich der Mann. Die Realität sehe anders aus. „Es gibt Migranten hier im Camp, die extrem aggressiv sind.“ Immer wieder komme es zu Attacken auf Wachpersonal. „Wir werden bespuckt, gebissen und getreten, alles schon erlebt.“
Bei den Insassen handelt es sich zumeist um Syrer, Afghanen, Iraner, Iraker, und ja, auch Palästinenser gebe es hier viele. „Wir haben Sorge, daß es jetzt mit dem Krieg in Gaza noch mehr von ihnen werden.“ Drei Wochen bleiben die Migranten in dem geschlossenen Hotspot, werden dort registriert und identifiziert. Dann werden sie auf das Festland gebracht. Von dort übernehmen entweder die zuständigen Asylbehörden oder es beginnt der Prozeß der Abschiebung. „Und genau da scheitert es“, verrät der Wachmann. So wie in Deutschland. Jenes Land, in das sich die meisten der Migranten, einmal auf dem Kontinent angekommen, auf den Weg machen.
„Wir sind hier am Limit. Das Lager ist voll“, sagt der Camp-Bedienstete. Trotz Pushbacks, trotz regelmäßiger Verlegungen aufs Festland sei das so. Wie kann das sein? Der türkische Bootsbetreiber Halit hatte der JF darauf in Bodrum Antworten gegeben. Eines aber wollte er nicht verraten.
Wo in Kos schlüpfen die Schleuser durch die Maschen der Patrouillen? „Psalidi Beach“, sagt der Wachmann darauf angesprochen sofort. Ein Küstenabschnitt im äußersten Nordosten der Insel. Auch unser Fahrer nennt uns zwei Hotels, in deren Nähe immer wieder ankommende Migrantenboote oder zurückgelassene Utensilien aufgefunden worden seien. Hotels in unmittelbarer Nähe zu Psalidi Beach.