Manöver – das ist das Wort, das man von der israelischen Führung nun immer wieder hört. Was auch immer das im einzelnen heißt: Ein „Manöver“ will die Armee jedenfalls im Gazastreifen durchführen, nachdem palästinensische Terroristen am 7. Oktober über 1.300 Zivilisten auf brutalste Weise ermordet haben, während sie nach wie vor jeden Tag Raketen bis ins Zentrum des Landes abfeuern. „Bald werdet ihr den Gazastreifen von innen sehen“, erklärte Verteidigungsminister Joaw Gallant jüngst vor Soldaten an der Grenze zur Küstenenklave. Sollte es sich hier nicht um ein großangelegtes rhetorisches Täuschungsmanöver handeln, so dürfte eine Bodenoffensive nun ausgemacht sein.
Für den weiteren Kriegsverlauf hat der Verteidigungsminister eine grobe Aussicht umrissen: Drei „geordnete Phasen“: Die erste Phase umfaßt den intensiven Krieg. Dazu gehören die bereits seit mehr als zwei Wochen durchgeführten und zuletzt noch einmal intensivierten Militärschläge „von außen“ gegen Terrorinfrastruktur und Terroristen im Gazastreifen. Noch zur ersten Phase zählt Gallant aber auch das erwähnte „Manöver“ auf dem Boden, das folgen soll. An einem Präventivschlag gegen die Hisbollah-Bedrohung aus dem Libanon zeigt die Regierung derzeit hingegen kein Interesse.
Washington nimmt Einfluß und deeskaliert den Konfikt
Irgendwann soll die Operation dann in eine zweite Phase übergehen, in der die Kämpfe mit geringerer Intensität weitergeführt werden. Die dritte Phase schließlich beinhaltet die Schaffung eines neuen „Sicherheitsregimes“ für den Gazastreifen. Zuletzt war vermehrt von der Einrichtung einer „Pufferzone“ die Rede. Gallant hat deutlich gemacht, daß Israel die Verantwortung für den Gazastreifen nach erfolgreicher Eliminierung der Hamas-Regierung wieder abgegeben möchte – so wie es die USA auch verlangen.
Warum die israelische Regierung das Bodenmanöver bislang noch nicht eingeleitet hat, ist – abgesehen von der Zeit, die es für Training der Reservisten und Planungen im einzelnen braucht – Gegenstand zahlreicher Spekulationen. Klar ist, daß das Kriegskabinett unter vielfältigem inneren wie äußeren Druck steht, nicht zuletzt aus Washington.
Zwar hat Joe Biden aus Sicht vieler Israelis große Unterstützung gezeigt. Daß er während seines Israel-Besuchs in der vergangenen Woche persönlich das Kriegskabinett traf, läßt sich aber auch als Bemühung verstehen, direkten Einfluß auf Israels Kriegsplanung zu nehmen. Der US-Präsident hat bereits Pflöcke eingeschlagen. So erinnerte er an die Gebote des humanitären Völkerrechts. Daß inzwischen mehrere LKWs mit Hilfsgütern von Ägypten aus in den Gazastreifen fahren durften, reklamiert er für sich. In Israel ist diese Entscheidung nicht unumstritten.
Biden dürfte es vor allem darum gehen, eine weitere regionale Eskalation zu vermeiden und sich zugleich für den Fall der Fälle genau darauf vorzubereiten: In Syrien und im Irak hat es mitt-lerweile Angriffe auf US-Truppen gegeben; das US-Verteidigungsministerium kündigte an, die Luftverteidigung in der Region verstärken zu wollen.
Im Innern sieht sich die israelische Regierung derweil im Zangengriff verschiedenster Erwartungen, die vor allem aufgrund der mehr als 200 Geiseln unerträglichen Druck aufbauen. „Ein Bo-deneinmarsch bringt ein schwieriges Dilemma mit sich: Die Notwendigkeit, das Leben der Entführten zu schützen, kollidiert mit der Notwendigkeit, die Hamas konsequent zu eliminieren“, erklärte jüngst der ehemalige Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Ja’akov Peri.
Die Hamas weiß das und nutzt es zur psychologischen Kriegsführung: Am Freitag vergangener Woche entließ sie zwei Geiseln – eine Mutter mit ihrer Tochter, beide amerikanische Staatsbürger – in die Freiheit. Am Montag folgten zwei ältere Frauen. Die Freilassungen helfen nicht nur der Hamas, das Image als „zweiter IS“ loszuwerden und sich erneut als vermeintlich „normaler“ Player ins Spiel zu bringen. Es nährt auch die Hoffnungen der Geiselangehörigen, ihre Lieben doch irgendwann wiederzusehen – und könnte so Gedanken stärken, die Bodenoperation weiter aufzuschieben.
Doch Israel hat nicht ewig Zeit: Die internationale Stimmung ist bereits kräftig gekippt. Davon abgesehen muß sich das Land fragen, wie viele Monate Kriegszustand seine Wirtschaft vertragen kann. Die Regierung bemüht sich mit Finanzhilfen, Unternehmen über Wasser zu halten. Inzwischen versuchen Geschäfte, Restaurants und Bars vielerorts, sich halbwegs mit der Kriegsrealität zu arrangieren. Doch auf der einen Seite fehlen Arbeitskräfte: die vielen Reservisten, aber auch Gastarbeiter, die das Land verlassen haben. Auf der anderen Seite bleiben die israelischen, aber auch ausländischen Kunden weg, die sonst das Land zahlreich bevölkern.
Die internationale Stimmung ist schon großteils umgeschlagen
Derweil fürchten auch die arabischen Nachbarländer einen langen Krieg, insbesondere das direkt an den Gazastreifen angrenzende Ägypten sowie Jordanien, dessen Bewohner zu etwa einem Viertel Palästinenser sind. Beide Staaten müssen unkontrollierbare Entwicklungen in der eigenen Bevölkerung fürchten. Die in der vergangenen Woche von Kairo veranstaltete „Friedenskonferenz“ sollte der arabischen Welt zeigen, daß man nicht tatenlos danebensteht, während – so die Diktion der arabischen Straße – die „Brüder“ im Gazastreifen „massakriert“ werden.
Dabei könnte Ägyptens Präsident Abd al-Fattah as-Sisi das humanitäre Problem einfach lösen, indem er sein Land für die Flüchtlinge öffnet. Damit aber würde er Selbstmord begehen: Sisi müßte das massive Einströmen von Hamas-Leuten und damit letztlich Muslimbrüdern befürchten. Die Muslimbrüder aber haben eine lange Tradition als Bedrohung für die ägyptische Staatsmacht. Davon abgesehen stünde zu befürchten, daß der Sinai zum Aufmarschgebiet einer weiteren Front gegen Israel wird. Diese Erfahrung macht etwa der Libanon bereits seit den 1970er Jahren mit seiner südlichen Landeshälfte – eine Erfahrung, die Krieg und Zerstörung brachte.