© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/23 / 27. Oktober 2023

Steigende Verrohung
Bunte Republik in der direkten Nachbarschaft: Wenn das Umfeld des Eigenheims plötzlich nicht mehr von Ruhe, Sicherheit und Sauberkeit geprägt ist
Martina Meckelein

Der Mann hat Tränen in den Augen. Hier, mitten im Garten seines geschmackvoll sanierten Hauses steht er in der Herbstsonne und beginnt plötzlich zu zittern. „Hören Sie das?“ Aus einem Fenster im 1. Stock aus dem Nachbargebäude dringt schrilles Babygeschrei. „So geht das seit Jahren“, sagt ­Marco Bergau. „Ich bin Lok-Führer, ich kann nicht mehr schlafen, dabei muß ich doch arbeiten.“ Kein Einzelfall. Die Menschen im Umkreis der AZUR-Pension sind mit den Nerven am Ende. Manche spielen mit dem Gedanken, ihr Haus zu verkaufen.

Ruhe, Sauberkeit, Sicherheit und Ordnung sind zentrale Normen dieser Gesellschaft. Verstöße gegen sie werden kaum geahndet. Es finden sich keine Statistiken, die sie auflisten. Doch viele von uns erleben sie tagtäglich. Müllberge an den Straßenrändern. Wilde Zeltlager in Parks. Beleidigungen und Bedrohungen im öffentlichen Personennahverkehr. Das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen wird im deutschen Alltag zu einem fast kaum noch zu bewältigenden Problem. Ein Fall aus Berlin zeigt symptomatisch das alltägliche Ringen, das Zusammenleben auszuhandeln. Und dabei gibt es keine Gewinner, nur Verlierer.

Kaulsdorf ist ein Stadtteil im Osten der Bundeshauptstadt. Schmucke Altbauvillen wechseln sich mit Stadthäusern aus der Jahrhundertwende ab. Große Bürgersteige, Straßenbaumalleen. Eine Gegend zum Wohlfühlen. 2019 kaufte Bergau seine Doppelhaushälfte, sanierte sie für die Familie. Sein Traum vom Eigenheim wurde wahr. Doch schon ein Jahr später sollte sich alles für ihn ändern.

Im Haus nebenan, einer ehemaligen Pension, sollte, so der Plan des neuen Eigentümers, ein Obdachlosenheim entstehen. Bergau bekam am 1. Dezember 2021 die Information über das Bauvorhaben vom Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf. „Der Bauantrag war aus dem Jahr 2020“, sagt Bergau. „Als wir die Information vom Bezirksamt bekamen, wurde schon umgebaut und zwar seit April.“ Aus der ehemaligen Pension sollte laut Bauantrag eine „soziale Einrichtung“ werden. In 24 Apartments sollten 43 Personen und sechs Kleinkinder unterkommen, „zur Vermeidung von Obdachlosigkeit“.

„Es sollte ein Mutter-und-Kindheim werden. Niemand hat hier etwas gegen sechs Kleinkinder und niemand sperrt sich dagegen, Obdachlosigkeit zu bekämpfen“, sagt Bergau. Doch sehr schnell wurde Bergau klar, daß hier irgend etwas nicht stimmt, wie er sagt. „Seltsamerweise wurden nur Eigentümer der Nachbarschaft über das Heim informiert, keine Mieter, obwohl es die doch genauso betrifft.“ Und heute, drei Jahre später? „Jetzt haben wir hier in dem Haus 27 Erwachsene und 29 Kinder“, sagt Bergau, „und einen immerwährenden Lärm. Die Kinder schreien bei geöffnetem Fenster. Im vergangenen Sommer ging der Rauchmeldealarm gefühlt zehnmal am Tag los. Männer urinieren an die Straßenbäume. Bewohner marschierten einfach in unseren Garten. Sie wollen sich nur mal umsehen, haben die gesagt.“ Im Garten hat er sich eine Pergola als Sichtschutz gebaut. Dort baumelt auch Gehörschutz an der Holzwand. „Wenn der Lärm zu schlimm wird“, sagt der Mann. Und einen kleinen Fischteich mit Wasserfall hat er sich angelegt, „nur um das Kindergeschrei nicht so intensiv zu hören“. Bergau ist nicht der einzige, der sich beschwert. Doch weitere Nachbarn möchten sich nicht in der Zeitung zitieren lassen. Sie haben Angst. Diese Wohnsituation sei allerdings nicht nur für die Nachbarn unerträglich, sondern auch für die Bewohner selbst, so Bergau. „Sie erzählten mir, daß sie dort teils zu viert in einem Zimmer lebten. Die Apartments seien teils nur elf Quadratmeter groß, und darin steht dann noch eine Pantryküche. So kann man doch keine Menschen unterbringen und schon gar keine Kinder, das ist doch eine Überbelegung.“

Am 5. Juli sprach er mit der Bezirksbürgermeisterin von Marzahn-Hellersdorf, Nadja Zivkovic (CDU). Offensichtlich veranlaßte sie daraufhin Kontrollen des Heimes. Aber weder das Ordnungsamt noch das Amt für Soziales oder der Integrationsbeauftragte sahen Handlungsbedarf. Für den Heimbetreiber nahm ein Anwalt gegenüber dem Bezirksamt Stellung. Die Bürgermeisterin zitiert indirekt aus der Stellungnahme: „Hierbei wird eindeutig kommuniziert, daß es zu jederzeit das Bestreben des Trägers ist und war, sich in die Nachbarschaft zu integrieren und vorhandene Vorurteile abzubauen, um den Anwohnern durch tägliches Vorleben aufzuzeigen, daß weder von der Einrichtung noch den Bewohnern irgendwelche Gefahren und Störungen ausgehen. Jedoch wird auch ausdrücklich betont, daß eine solche Akzeptanz vor Ort durch wiederholt von Ihnen eingereichte Beschwerden oder strafrechtliche Verfahren nicht gefördert wird.“ Für die Verwaltung ist damit klargestellt, „daß der Einrichtung hinsichtlich ihrer Arbeit und Leistung keine Vorwürfe gemacht werden können“.

Für Bergau und auch einige Nachbarn ist diese Antwort natürlich nicht befriedigend. „Denn das Problem mit den Bewohnern ist doch damit nicht gelöst“, sagt er. „Klar sind die Menschen dort gestreßt, und klar haben die eine ganz andere Vorstellung von Zusammenleben als wir. Aber so kann es nicht weitergehen.“ Doch selbst sein Haus zu verkaufen sei keine Lösung. „Ein Verkauf wäre nur mit einem riesigen Verlust möglich, und die Lärmbelästigung kann ich doch nicht verschweigen.“ Während der Mann das sagt, blickt er aus dem Fenster auf den Vorgarten. Es ist still in der Küche, die im Rockabilly-Stil eingerichtet ist. Die fröhlichen rot-weißen Stühle, lustigen gepunkteten Kannen und Becher stehen im vollkommenen Gegensatz zu der Verzweiflung, die in Bergaus Gesicht zu lesen ist.

Es häufen sich die Beschwerden über Müll- und Lärmbelästigungen

Nein, Bergau ist kein Einzelfall. Lärm und Müll sind häufig Grund für Beschwerden. „Wir bekommen über unser sogenanntes AMS-System vielfältige Meldungen von Bürgern über alles, was nicht so gut in unserem Bezirk läuft“, sagt Bezirksstadtrat Bernd Geschanowski (AfD). Er ist zuständig für das Ordnungsamt mit seinen 110 Mitarbeitern, 44 davon im Außendienst im Bezirk Treptow-Köpenick. „AMS“ ist die Abkürzung für Anliegen-Management-System. Bürger können über die Plattform „Ordnungsamt Online“ zum Beispiel wilde Müllkippen an eines der zwölf Berliner Ordnungsämter melden, anonym oder mit Klarnamen. „Aus diesen Meldungen ist nicht viel über das Zusammenleben mit Migranten und Deutschen abzuleiten“, sagt Geschanowski. „Was den Müll betrifft, ist der sehr schwer zuzuordnen.“ Die Mitarbeiter des Ordnungsamtes müßten die Müllsünder auf frischer Tat ertappen, so der Stadtrat. „Aber es fällt schon auf, daß im Umfeld um Containerheime und einigen Unterkünften die Verschmutzung zugenommen hat. Im Sommer steigen dann die Meldungen in bezug auf Lärmbelästigung an. Die Menschen sitzen draußen vor ihren Unterkünften und sind laut.“ All diese Vorkommnisse zu unterbinden, läge allerdings in der Verantwortung des Betreibers. „Es gibt bei uns vorbildliche Einrichtungen, da nehmen auch die Angestellten im Sicherheitsdienst ihre Arbeit genau, schreiten ein und passen auf, daß es nicht eskaliert.“

Der Träger des Heimes in Kaulsdorf, die Soziales Berlin GmbH und Co. KG – er betreibt acht Einrichtungen in der Bundeshauptstadt und betreut nach eigener Aussage derzeit über 800 Bewohner – nahm gegenüber dieser Zeitung zu den Vorwürfen Stellung. „In unserer Einrichtung Haus AZUR sind ausschließlich weibliche Bewohnerinnen und ihre Kinder untergebracht, die selbstverständlich keine Drogen konsumieren“, so Gregory Krause. Er ist der Vermögensverwalter des Unternehmens. „Wir sind ständig in Kontakt mit den zuständigen Fachabteilungen des Bezirksamtes Marzahn-Hellersdorf, insbesondere dem Jugendamt, dem Gesundheitsamt und dem Sozialamt. Regelmäßig erfolgt ein Austausch, und bislang gab es keinerlei Beanstandungen bezüglich Verstößen gegen das Jugendschutzgesetz oder Hygienevorschriften.“ Auch sei die Unterkunft zu keinem Zeitpunkt überbelegt gewesen. Man habe bereits Gespräche mit den Nachbarn geführt und stehe in regelmäßigem Austausch mit dem Polizeiabschnitt 33 und Vertretern der Polizeidirektion 3. 

Geschanowski nimmt durch den Zustrom der Migranten eine Veränderung in der Gesellschaft wahr. „Immer mehr Menschen werden aggressiver, eine Verrohung ist spürbar. Die Angriffe zeigen deutlich die Unzufriedenheit der Menschen mit den aktuellen Entwicklungen. „Der Bürger bekommt doch den immensen Zustrom und die daraus resultierenden Probleme mit. Er liest jeden Tag, wie verzweifelt Kommunen weiteren Platz für Flüchtlinge suchen und wie überfordert die Kommunen damit sind.“ Im April 2023 meldete das Statistische Bundesamt, daß in Deutschland insgesamt 83,1 Millionen Menschen leben. Davon sind nur noch 59,278 Millionen Deutsche ohne Migrationshintergrund (71,3 Prozent). 23.825 Millionen Menschen, die hier leben, haben einen Migrationshintergrund (28,7 Prozent). Im Vergleich zum Vorjahr entspricht das einem Zuwachs von 5,2 Prozent. Für Lokführer Bergau und die Nachbarn bedeutet das, daß es in den nächsten Jahren keine Verbesserung ihres Wohnumfeldes geben wird.