© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/23 / 20. Oktober 2023

So geht Generationenvertrag
Häufig totgesagt und doch quicklebendig: Vererbbares Eigentum. Der Historiker Jürgen Dinkel zeichnet die Geschichte des Familienerbes nach. Dabei geht er auch auf das Scheitern der Alternativen ein
Michael von Prollius

Die Familie ist eine der erfolgreichsten Institutionen der Welt. Es gibt zu ihr keine Alternative, allen politischen Anmaßungen und Attacken zum Trotz. Das gilt auch für das Eigentum. Nach dem Tod wird es weit überwiegend in der Familie weitergegeben. In Deutschland vererben seit den 1970er Jahren 90 Prozent der verheirateten Testatoren mit Kindern ihr Vermögen an enge Familienmitglieder. Das Erbrecht von Ehepartnern wurde seit den 1960er Jahren sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in den USA gestärkt. Selbst in der Sowjetunion kamen die Machthaber nicht umhin, in den frühen 1960er Jahren die gesetzliche Erbfolge und damit die Familie zu stärken.

Zu diesen und vielen weiteren aus einer Fülle von Quellen aufgearbeiteten Ergebnissen kommt der Historiker Jürgen Dinkel in seinem detailreichen Band „Alles bleibt in der Familie“. Die auf einer Habilitation beruhende Schrift betrachtet „Erbe und Eigentum in Deutschland, Rußland und den USA seit dem 19. Jahrhundert“, so der prägnante Untertitel. Das Erkenntnisinteresse irritiert zunächst, weil das Buch erklären soll, weshalb die Familie „solch eine Gravitationskraft für Erbangelegenheiten“ bildete. Wer sonst? Antworten auf die Frage erscheinen dementsprechend intuitiv naheliegend. Das gilt sowohl für Berichte über einzelne Erbfälle als auch strukturelle Aussagen, die aus den quantitativen und qualitativen Befunden abgeleitet werden. Eine gelungene Mischung.

Der Leipziger Neuzeithistoriker bietet nach einer wissenschaftlichen Einleitung drei unterschiedlich große Teiluntersuchungen. Teil I erläutert die „Genese der bürgerlichen Erbordnung im langen 19. Jahrhundert“. Hier dominiert die private Sphäre der Erbpraxis mit Erblasser und Erben, Rechtsanwälten und Erbenermittlern. Hinzu kommt die zunächst vielfältige, später vereinheitlichte Rechtsordnung mit einem wachsenden Verwaltungsapparat. Frühzeitig wurde das Erbrecht von politischen Gruppierungen als Instrument zur Gestaltung der Gesellschaft über den Staat angesehen. Mäzenatentum war in den von Jürgen Dinkel untersuchten Städten Frankfurt am Main, Baltimore und Odessa eine Tradition. Internationales Privatrecht und transnationale Übertragungen von Erbe spielten in einer zunehmend vernetzten Welt eine Rolle: „Rechts- und Staatsgrenzen überschreitende Erbtransfers waren im 19. Jahrhundert ein ‚Normalfall‘.“ Indes kollidierten Globalisierung und Imperialismus zunehmend. 

Der umfangreiche Teil II bietet eine staatspolitische Perspektive im 20. Jahrhundert auf die Sowjet-union, die USA und Deutschland. Hinzu kommt die internationale Politik, die Erbschaften über Grenzen hinweg erschwerte, etwa im Kalten Krieg. Die Ausdehnung der Staatsapparate und nationalistische Kriege führten dazu, mehr privates Vermögen über Steuern einzuziehen. Zudem popularisierten sozialdemokratisch-sozialistische Kräfte eine Gleichverteilung. Ob in der Sowjetunion oder im nationalsozialistischen Deutschland, stets ging es um Macht, politische Privilegien statt Privatheit und einen Gesellschaftsumbau. Auch in den USA nahm die behördliche Organisation des Sozialen unter Franklin D. Roosevelt völlig neue Dimensionen an. Während alle Stadtbewohner Baltimores über alle sozialen Gruppen hinweg ihr Eigentum in der Familie halten wollten, lösten Vermögenssteuern Bemühungen aus, diese zu mindern und zu umgehen. Das Auf und Ab politischer Vermögensumverteilung über Revolutionen und Reformen veranschaulicht auch das deutsche Beispiel seit der Weimarer Republik. 

Teil III zeichnet die Liberalisierung des Familienprinzips und dessen Legitimierung seit den 1960er Jahren in allen drei Staaten nach. Eine veränderte Gesellschaft erforderte Anpassungen von Recht und Erbordnung. Mehr als eine Randnotiz ist das Unwissen von Politik und Behörden Ende der 1960er Jahre über die empirischen Erbtatbestände. Transnationales Vererben wurde wieder zum Normalfall. Die Politik zielte auf Schutz und Stärkung der Familie und kehrte damit zurück zu den Wurzeln und Wünschen der Familien. Jürgen Dinkels Bilanz seiner umfangreichen transatlantisch-europäischen Untersuchung der Erbordnung, wesentlicher Akteure und politischer Einflußnahme lautet: „Gleichwohl waren die unterschiedlichen politischen Reformprojekte nicht in der Lage, das Erbtransfers zugrunde liegende Familienprinzip wesentlich zu beschränken.“ Auf dieser soliden Grundlage kann eine Diskussion beginnen. Dazu gehören nicht zuletzt ökonomische und rechtliche Kriterien, die geeignet sind, verschiedene Perspektiven zu prüfen, zum Beispiel Familie und Privates unter Druck. 50 Prozent beträgt der Höchstsatz für Erbschaftssteuer in Deutschland. Der Formulierung „Ideologie der Familie“ läßt sich ein aktueller Satz von Wolfgang Fenske, Leiter der Berliner Bibliothek des Konservatismus, entgegenhalten: „Zum kleinen Einmaleins von Konservativen gehört die Einsicht, daß nicht der einzelne, sondern die Familie die kleinste Einheit eines Volkes darstellt.“ Liberale würden einen Primat der Privatheit hinzufügen.

Jürgen Dinkel: Alles bleibt in der Familie. Erbe und Eigentum in Deutschland, Rußland und den USA seit dem 19. Jahrhundert. Böhlau Verlag, Köln 2023, gebunden, 482 Seiten, 65 Euro