Dieses Kabinett ist mit guten Absichten gestartet“, schreibt der Journalist und Dokumentarfilmer Stephan Lamby zu Beginn des Buchs „Ernstfall. Regieren in Zeiten des Krieges“. Die im Dezember 2021 vereidigte Ampelkoalition unter Kanzler Scholz wollte Deutschland zur klimaneutralen Industriegesellschaft nebst weiterer zeitgeistiger Reformen umbauen. Doch dann kam Putins Einmarsch in die Ukraine. Lamby: Den Regierungsmitgliedern „blieben nur ein paar Wochen. Dann mußten sie innerhalb kürzester Zeit umdenken. Und zwar gewaltig.“ Jahrzehntelange Positionen der Bundesrepublik werden geräumt. Es gibt Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet Ukraine, die Bundeswehr wird aufgerüstet, die Gasinfrastruktur komplett umgebaut, die Regierung zahlt Milliardenhilfen gegen explodierende Energiepreise, um keine „Volksaufstände“ (Baerbock) zu riskieren.
Lamby betrachtet die Politik der Regierung im „Ernstfall“ über das Handeln der Protagonisten Kanzler Olaf Scholz (SPD) und der Minister für Äußeres, Annalena Baerbock, Wirtschaft, Robert Habeck (beide Grüne) und für Finanzen, Christian Lindner (FDP). Lehrreich ist die Einbindung von Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD). Zum Buch gibt es auch die gleichnamige 75minütige Fernseh-Dokumentation, die vor Wochen in der ARD gelaufen ist. Während die TV-Sendung eher hagiographisch mit bedeutungsschwangeren Politiker-szenen und dramatisierender Musik daherkommt, geht es im Buch differenzierter zu.
Der preisgekrönte Lamby gilt als Chronist der Republik. Er hat viele Kanzler und Kabinette beobachtet. Weil er den Ruf hat, fair zu berichten, gewähren ihm die Herrschenden überall Zugang im politischen Betrieb und oft tieferen Einblick. Im Prinzip ist „Ernstfall“ eine Fortsetzung von Lambys vorigem Buch „Entscheidungstage“ (2021) samt TV-Doku („Wege zur Macht“) über den Wahlkampf in der ausgehenden Merkel-Ära. „Ernstfall“ ist eine Bilanz der ersten 19 Monate der „Fortschritts-Koalition“ mit ihren ungleichen Partnern; sie endet mit dem Nato-Gipfel in Vilnius im Juli 2023.
Sehr detailliert schildert Lamby die ersten Wochen nach Putins Invasion, als die Regierung einem aufgescheuchten Hühnerhaufen gleicht und verzweifelt versucht, Ordnung auf dem (Regierungs-)Hof zu schaffen, wo fortan ganz andere Prioritäten gelten als im Koalitionsvertrag. Der Autor nimmt den Leser mit auf Reisen der Regierungsmitglieder in alle Welt, ob nach Kiew, Peking, Washington, nach Moldau, Mali, Saudi-Arabien oder nach Leuna in Sachsen-Anhalt. Dabei zeigt sich: „Auch in Zeiten schwerer Krisen ist in Berlin immer noch Platz für parteitaktische Spiele“, schreibt Lamby. Er konstatiert eine „Aufmerksamkeits-Konkurrenz“ zwischen Habeck und Lindner oder zwischen Scholz und Baerbock.
Schon früh werden Risse in der „Ampel“ sichtbar, etwa zwischen FDP und Grünen um die Schuldenbremse oder später das Heizungsgesetz. Der Autor hebt das sphinxhafte Wesen von SPD-Kanzler Scholz hervor („zögerlich, kalt und arrogant“) – und kontrastiert dies mit den Grünen-Lieblingen Habeck und Baerbock („einfühlsam und bürgernah“). Besonders angetan ist der Autor von Habeck, dessen Lernkurve hin zur Realpolitik, etwa beim längeren Betrieb von Kohlekraftwerken, einfühlsam geschildert wird, während über Baerbocks „wertebasierte Außenpolitik“ oft gelästert wird.
Opposition kommt in dieser Reportage so gut wie nicht vor. Lamby erwähnt nur hin und wieder die Aktivisten der „Letzten Generation“. Andere Probleme im Land wie die Massenmigration und ihre Folgen, die wesentlich zum Popularitätsanstieg der AfD und dem Ansehensverfall der Ampelregierung in deren erster Halbzeit geführt haben, werden ignoriert. Vom Klimathema dagegen ist Lamby elektrisiert. Bei ihm gibt es keine Zweifel über die bevorstehende Klimakatastrophe. Er hält die hiesigen „Fehleinschätzungen in der Energie- und Klimapolitik“ für ein „Staatsversagen“.
Vielleicht zeigt sich hier mehr als anderswo die Sozialisierung des in Bonn aufgewachsenen Stephan Lamby. Er hat die Politik der alten Bundesrepublik mit der Muttermilch aufgesogen – und attestiert sich selbst: „Mehr bundesrepublikanische Prägung ist kaum möglich.“ Der Kriegsdienstverweigerer meint die Demonstrationen gegen Atomkraft und US-Mittelstreckenraketen in den 1980ern – aber es gilt wohl auch für die heutige Klimareligion.
Im Gegensatz zur Kritik an der Klimapolitik urteilt der Autor zum Regierungshandeln beim Ukraine-Krieg positiv: „Man muß der Mannschaft von Olaf Scholz zugute halten, daß sie in der größten internationalen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg Schlimmeres verhindert hat. Das klingt klein, ist es aber nicht.“ „Ernstfall“ ist eine spannend geschriebene Reportage des Berliner Regierens seit dem Februar 2022. Die Haltung des sonst zurückhaltenden Beobachters schimmert durch, wenn Lamby Scholz tadelt, Kiew militärisch nicht genug zu helfen. Für Historiker vermittelt das Buch interessante Einblicke in Regierungshandeln unter extremen Streßfaktoren.
Stephan Lamby: Ernstfall. Regieren in Zeiten des Krieges. C. H. Beck, München 2023, gebunden, 400 Seiten, 26,90 Euro