© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/23 / 20. Oktober 2023

Grausame Gebietssicherungen
Mischt sich in Genoziden eine wahnhafte Dynamik mit rationalen Interessen? Der Historiker A. Dirk Moses nähert sich dem Thema neu
Thorsten Hinz

Der australische Historiker A. Dirk Moses brachte vor zwei Jahren mit seinem bissig-ironischen „Katechismus der Deutschen“ die Historiker- und Journalistenzunft in Wallung. Dessen erster Glaubenssatz laute, daß der Holocaust keinerlei rationale, irgendwie pragmatische Gründe und Zwecke gehabt habe, sondern allein einer mörderischen Ideologie entsprungen sei. Diesem sogenannten „Zivilisationsbruch“ würde eine sakrale Dimension eingeräumt. 

Gegen solche religiöse Überhöhung hat es stets offene und verklausulierte Einwände gegeben. Neuerdings stellt die Erforschung des europäischen Kolonialismus die singuläre Stellung des Judenmordes frontal in Frage; sie gilt als eine eurozentristische beziehungsweise westliche Anmaßung.

Auch Moses läßt in seinem schmalen Band keinen Zweifel daran, daß er die Verabschiedung dieses „Erinnerungsregimes“ für überfällig hält; die Wahrnehmung der Welt sei unter ihm „verkümmert“. Historisch-genetisch korrespondiert es mit der Genozid-Definition der Uno, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck des Judenmordes verabschiedet wurde. Demnach würden Völkermorde in der Absicht begangen, nationale, ethnische und sonstige Gruppen „als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Die Betonung liegt auf „als solche“, das heißt, die Opfer werden nicht aus materiellen, etwa militärischen Zweckmäßigkeiten, sondern allein aufgrund ihrer Identität ausgelöscht. Das läßt Raum für Interpretationen und Ausflüchte und ist das Produkt „einer spezifischen Konstellation von Ideen und Interessen“. 

Es entsprach der Interessenlage der Weltkriegssieger, Deutschland das ultimative Haßverbrechen auf sein Schuldkonto zu setzen, ohne zu riskieren, mit den eigenen Kriegsverbrechen – den zurückliegenden wie den künftigen – unter das Völkermord-Verdikt zu fallen. Diese konnten weiterhin als Kollateralschäden für einen guten Zweck begründet werden. Moses zitiert den amerikanischen Chefankläger im Nürnberger Prozeß, Robert H. Jackson, der im August 1945 in einem Artikel für das New York Times Magazine unumwunden forderte: „Sollte es künftige Kriege geben, müssen wir daraus als Sieger hervorgehen“, nämlich indem „wir bessere Mörder sind, indem wir mehr und schneller töten als der Feind.“ Der Unterschied zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten war aufgehoben.

Weder die Kolonialgeschichte noch der Zweite Weltkrieg, noch die die zwischenstaatlichen Konflikte und innerstaatlichen Gewalttaten danach, die Millionen Opfer forderten, lassen sich gemäß dem Genozid-Muster der Uno säuberlich sortieren. Das osmanische Massaker an den Armeniern oder die zwei bis drei Millionen Opfer US-amerikanischer Bomben während des Vietnamkrieges sind nur zwei Beispiele. Moses will die Diskussionen auf eine neue begrifflich-theoretische Ebene heben und plädiert dafür, den Genozid als eine „Unterkategorie“ zu begreifen, als den Versuch einer „dauerhaften Sicherung“. Darunter versteht er „das Streben von Staaten und bewaffneten, an Staatsgründung interessierten Gruppierungen, sich gegenüber aktuellen und zukünftigen Bedrohungen unverwundbar zu machen“.

Der Begriff stammt von dem in Landsberg hingerichteten Otto Ohlendorf (1907–1951), den Chef der SS-Einsatzgruppe D, die im Osten Massenmorde an Juden verübte. Diese hätten, so Ohlendorf, den Zweck gehabt, eine „momentane und dauernde Sicherung des eigenen Raums gegenüber jenem Raum zu erreichen, mit dem die kriegerische Auseinandersetzung stattfindet“. Für Ohlendorf handelte es sich, so Moses, um eine „legitime Anti-Partisanen-Politik“. Zudem hatte er sich die angebliche Affinität von Judentum und Bolschewismus zu eigen gemacht. Der Verweis des US-Anklägers in Nürnberg auf die Ermordung der nicht wehrfähigen Kinder verfehlte den Kern dieser barbarischen, zugleich in sich geschlossenen Handlungslogik, denn Ohlendorf hatte auch von künftigen Bedrohungen gesprochen, gegen die man sich sichern wollte.

Moses nennt drei Merkmale der „Sicherung“: Erstens wird eine „implizite Kollektivschuld“ behauptet, die es erlaubt, definierte Gruppen und Völker zur kollektiven Gefahr zu erklären. Zweitens geht es um Präemption, um Vorbeugung gegen eine vermeintlich objektive Bedrohung, die radikale Maßnahmen wie präventive Tötungen erfordert. Drittens wirkt sich darin eine Paranoia, eine wahnhafte Realitätsverkennung, aus.

Moses unterscheidet die antiliberale von der liberalen Sicherung: Die antiliberale Variante läßt sich nicht immer, aber oft auf ein Trauma, etwa auf eine Niederlage zurückführen, deren Wiederholung ausgeschlossen werden soll. Es geht ihr um partielle Ziele wie die Sicherung eines begrenzten Territoriums. Die liberale Sicherung hingegen erklärt sich mit universalistischen Argumenten und verdammt den Gegner als „Feind der Menschheit“, was Luftangriffe, Hungerblockaden, Massenvertreibungen erlaubt.

Der Holocaust ist für Moses kein geheiligtes „Niemandsland des Verstehens“ (Dan Diner), doch er weist Besonderheiten auf. Spätestens wenn er den „Erlösungsantisemitismus“ erwähnt, wird klar, daß er auch auf den Spuren Ernst Noltes wandelt – den er verschämt in einer distanzierenden Fußnote versteckt.

Moses’ Essay enthält einen anregenden Entwurf, der freilich einer Feinjustierung bedarf. In der Praxis bleibt die Genozid-Klassifizierung ohnehin eine Frage der Definitionsmacht. Extrem störend ist die manische Genderisierung in der deutschen Übersetzung. Sie wird vollends lächerlich, wo von führenden „Nationalsozialist*innen“ die Rede ist. Steckte etwa die Eva hinter Adolfs Untaten? – Das Thema ist zu ernst für solche Albernheiten.

A. Dirk Moses: Nach dem Genozid. Grundlage für eine neue Erinnerungskultur. Matthes & Seitz, Berlin 2023, broschiert, 159 Seiten, 15 Euro