Vor etlichen Monaten wagte es der Sozialpsychologe Harald Welzer, hinsichtlich des russisch-ukrainischen Krieges für Friedensgespräche zu plädieren statt für Feldgeschrei. Mit dem Ergebnis, daß die medialen Sturmgeschütze der Demokratie ihre Rohre auf ihn richteten. Welzer wiederum legte nach und bezeichnete in dem folgenden Buch „Die vierte Gewalt“ den aktivistischen Journalismus linker und liberaler Leitmedien als demokratiegefährdend: ein Konglomerat aus Framings, Machtkonformismus, Moralisieren und Meutebildung.
So sorgt es für Spannung, wenn Welzer nun einen weiteren, warnend klingenden Titel vorlegt: „Zeiten Ende: Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr“. Zeigt er sich darin unbeugsam gegenüber dem Ampel-Zeitgeist – oder sieht er sich zu Konzessionen an seine Kritiker genötigt? Die von Kanzler Scholz verkündete ominöse „Zeitenwende“ sieht Welzer globaler. Nicht als Politfolklore à la Energie-, Wärme- und Verkehrswende, sondern als eine mit dem Aufstieg Chinas verbundene neue Machtkonfiguration und als Veränderung im Klimasystem des Planeten. Sie gehe einher mit vielfältigen Krisenerscheinungen der Demokratien des Westens: „Das universalistische Projekt der globalen Demokratisierung, Liberalisierung und der Menschenrechte wird sich absehbar nicht realisieren. Und über allem, aber im engen Zusammenhang mit allem, entfalten sich die klimatologischen und ökologischen Problemlagen.“
Deutschland – kein Sommermärchen. Das lang gehegte Selbstbild als Wirtschaftsmacht mit mittlerem kontinentalpolitischem Einfluß, mit funktionierender Verwaltung und stabiler Mittelschichtsdemokratie kippt: „Viele Menschen fühlen sich vom Angebot, das ihnen die politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten in Deutschland machen, nicht mehr angesprochen. Zugleich erhöhen die Polykrise und eine unzureichende Daseinsvorsorge den Streß der Bürgerinnen und Bürger und vermitteln ihnen das Gefühl, daß zunehmend außer Kontrolle gerät, was ihr Land sein sollte.“ Die Ampel-Koalition tritt auf mit moralisierender Kraftmeierei, aber ohne wirkliches politisches Leitbild. Den Scheindebatten der Medien glauben die Bürger genausowenig wie den Leerformeln einer „Respekt“-Politik, einer „deutschen Führungsrolle“ samt „feministischer Außenpolitik“, etwaigen „europäischen Lösungen“ oder dem „Wumms“ eines neuen Wirtschaftswunders dank „Sondervermögen“. Die geballte Dysfunktionalität der deutschen Politik nimmt der Autor in den kritischen Blick.
Dabei findet er, es sei fast unmöglich, heute noch ein zeitdiagnostisches Buch abzuschließen. „Zwischen Fertigstellung des Manuskripts und Korrektur der ersten Druckfahne sind schon wieder so viele Dinge geschehen, daß man ergänzen und revidieren muß.“ Oder war dem produktiven Buchautor womöglich so sehr an einer zeitigen Diagnose gelegen, daß er alles Betreffende eilig zwischen zwei Buchdeckel zu bringen versuchte? Der assoziative Stil zwingt den Leser zu einer Konzentration des Lesestoffs, die eigentlich der Autor hätte leisten müssen. Die Sicht des Sozialpsychologen seziert die kognitiven Verzerrungen der Parteiapparate, des politischen Personals und ihrer Verlautbarungsmedien, aber die historische Analyse, die Kausalketten der Realpolitik sind weniger sein Metier.
Dagegen entwirft er ein „Leitbild für die Demokratie im 21. Jahrhundert“ unter folgender Kondition: „Wenn man ein Land sein will, das auf die zivilisatorischen Güter Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit stolz ist und zudem staatliche Daseinsvorsorge gut findet, dann muß die Politik sagen, daß es die Wohlstandsgewinne wie bisher nicht mehr geben wird, sondern ganz im Gegenteil Wohlstandsverluste.“ Weiß Welzer, daß er damit den deutschen Wohlfahrtsstaat samt Freiheit und Recht beerdigt? Was ihm vorschwebt, ist eine sozialökologische Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft im Sinne des De-Growth, des Postwachstums. Das parlamentarische System möge durch Bürgerräte ergänzt werden, auch könne man die Arbeitszeit auf 80 Prozent bei vollem Lohnausgleich reduzieren, sofern die frei gewordene Zeit für ehrenamtliches Engagement eingesetzt und die Entlohnung dafür vom Staat übernommen werde. „Gute Orte“ für „anlaßlose Vergemeinschaftung“, gar als „klassenloses Zentrum der Gesellschaft“ wünscht sich Welzer. Es ist eine Utopie, die offenbar Sozialarbeit zum Staatszweck erheben will.
In Vorausahnung von Kritik aus dem eigenen Lager hält es Welzer für geboten, sich nach rechts abzugrenzen und mediale Framings zu übernehmen. Gegen Versuchungen des Rechtspopulismus, gegen eine AfD, die wachsende Zustimmungswerte angeblich ohne eigene Leistung genieße. Die Erwägung, daß neue rechtskonservative Parteien eine wichtige Erweiterung, ja Befestigung der Demokratie sind, ist ihm offenbar fremd. Welche Erkenntnisse aus dieser Gemengelage gewinnt zumal der konservative Leser?
Harald Welzer zeigt sich als lesenswerter Kritiker eines fehlgehenden Linksliberalismus, bleibt aber selbst so sehr einer sozialökologischen Denkweise verhaftet, daß auch ihm die politische Praxis mit ihren realpolitischen Zwängen entgleitet. Was Welzer an der Regierung bemängelt, daß sie sich als Elitenprojekt aus der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt habe, das gilt auch für seinen eigenen Utopismus. Die Diskrepanz zwischen dem Verstehen einer Krisenlage und einer dennoch unterbleibenden praktisch-politischen Neuausrichtung zeigt sich bei einem klugen Warner wie Welzer selbst als kognitive Dissonanz.
Harald Welzer: Zeiten Ende. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023, gebunden, 304 Seiten, 24 Euro