© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/23 / 20. Oktober 2023

McChristus und der Westen
Das mittelalterliche Ringen um Thron und Kirche will der Journalist Dan Jones in moderne Konzepte übersetzen. Das wäre unterhaltsam, würde es der Autor nicht so ernst meinen
Eberhard Straub

In der Präambel des Lissabonner Vertrags über eine europäische Verfassung wird 2007 das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe der Völker in Europa beschworen, die sich zur Europäischen Union zusammengeschlossen haben, und beteuert, daß diese Völker stolz auf ihre „nationale Identität und Geschichte“ seien. Bei solchen Sinnsprüchen handelt es sich allerdings nur um festtägliche Redensarten; denn mit nichts hadern die verschiedenen Europäer so sehr wie mit ihrer jeweiligen Geschichte und der Europas, die für sie erst einmal fern, fremd und irritierend ist. Das bestätigt Dan Jones mit „Mächten und Thronen“, einer „neuen Geschichte des Mittelalters“, die gar nicht mit Neuigkeiten aufwartet, sondern mit aktualisierendem Jargon Neugier auf abgelebte, verstaubte und ganz unverständliche Zeiten wecken und eine Menge Spaß bereiten möchte. 

Die innerkirchliche Reformbewegung, vom französischen Kloster Cluny im späten 10. Jahrhundert eingeleitet, hat es mit dem Mönchtum, den Klöstern, mit einer geregelten asketischen Frömmigkeit zu tun, mit Kirchenmusik und Gelehrsamkeit, auch mit dem Verhältnis von Papst und Kaiser, geistlicher und weltlicher Macht. Das alles hängt mit Institutionen und dem christlichen Glauben, mit Ideen und Lebensentwürfen zusammen, die in nachchristlichen Epochen vollkommen unverständlich geworden sind und höchstens über „spektakuläre“ oder „sensationelle Kirchen“ mit ihrem dekorativen Aufwand als Sehenswürdigkeit und touristischer Magnet in der Gegenwart noch über einige Anziehungskraft verfügen. Cluny hatte einen weitreichenden Einfluß, und vom Stammkloster aus wurde sorgsam darauf geachtet, daß Mönche und Laien sich von dem neuen Geist ergreifen ließen, um zu einem neuen Menschen und Christen zu werden. 

Dan Jones sieht in gemeinschaftlicher Spiritualität ein boomendes Geschäft, massiv gefördert von Königen und großen Herren, die wegen des elitären Seelenreinigungsdiensts, den die Klöster im Angebot haben, auf das Angel – Investment vertrauen. Bei Cluny handelt es sich in diesem Sinne um ein agiles Start-up mit dem Ziel, eine internationale Marke zu werden, geleitet von einem geistlichen CEO, der Cluny zu einer Schaltzentrale ausbaut, von der aus Filialen, ähnlich wie bei McDonald‘s, ständig kontrolliert werden. Von Cluny aus sind auf ihre Art freiberufliche Qualitätsprüfer unterwegs, die das boomende Klosterwesen scharf im Auge behalten. Es ist ein vielversprechendes Geschäft, bei dem sich in Cluny und anderswo eine goldene Nase verdienen läßt, weil die Gründung von Klöstern eine beliebte Freizeitbeschäftigung reicher Männer und Frauen geworden ist, die aufgrund ihrer Soft Power der Kirche einen enormen Stellenwert verschaffen. Früher bedienten sich Pennäler oder Studenten in Bierlaune, wenn sie sich einen Jux machen wollten, solcher Vergegenwärtigung fernster Zeiten, dabei aber stets voraussetzen könnend, daß solch verbaler Klamauk als Ulk begriffen wurde, als Spott über die strenge Pedanterie ihrer Geschichtslehrer und Professoren. 

Dan Jones, der Filmemacher, Journalist und belletristische Antiquitätenhändler, meint es hingegen ernst. Er darf sich wegen des Applauses, der diesen Versuchen um Aktualisierung gespendet wird, in seiner sozialrelevanten Absicht bestätigt fühlen. Nämlich auf diese Weise einem Publikum Lust auf ziemlich langweilige Geschichten zu machen, indem er unterhaltsam versichert, daß es nichts Neues unter der Sonne gibt und die Geschichte um uns weiter so wirbelt wie schon immer: voller Superstars, kreativer Genies, Migranten und xenophoben Rechten und Faschisten, doch auch nicht ohne Männer fürs Grobe, Brutalos mit Hirn, die durchaus tragende Säulen des Establishments sein können, das aufpassen muß, um während dramatischer Transformationen nicht kalt erwischt zu werden, gut aufgestellt zu bleiben. 

Die Geschichte des Mittelalters entwickelt sich in Kämpfen, Siegen, Niederlagen, vorangetrieben von neuen Waffen und Kerlen, die sie zu gebrauchen wissen aufgrund der Kraft des politischen Narrativs, das ihnen dazu verhilft, sich als äußerst hartgesottene Gegner zu bewähren. Überhaupt verleitet das Mittelalter zu Superlativen: wer und was über Starpotential verfügt, ist sensationell, spektakulär,  überwältigend, ultimativ brandneu, brachial oder gar ultrabrutal. Action, Crime, Sex, toxische Männlichkeit, listige Frauen, brillante Gelehrte, malerische Genies, die sich ihre Inspiration von nah und fern holen, treiben das Geschehen unter Europäern voran. Diese sind immer von Sorgen geplagt und deshalb als jeweils letzte Generation dazu aufgefordert und genötigt, auf die Kraft ihrer Phantasie zu vertrauen und im richtigen Moment mit zu ihm passenden Innovationen und Erfindungen fähig zu sein, sich gegenüber aus Asien, aus dem Osten kommenden Feinden zu behaupten, ob Hunnen, Mongolen, Araber oder Türken. Irgendwie gelang es, nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches aus letzten Römern, romanisierten Galliern und Iberern, germanischen Migranten, unruhigen Ungarn, verwegenen Normannen und sogar aus Russen, sich miteinander vermischend, Europäer zu machen, Westeuropäer, andere Europäer gibt es nicht, die beim Ausgang des Mittelalters in die weite Welt ausgriffen und sich bemühten, sie zu verwestlichen. 

Dan Jones schreibt, wie er bekennt, im Westen. Das Mittelalter ist für ihn die Geschichte des Westens und dauernder europäischer Verwestlichung. Die paneuropäische Union, die einst das Römische Reich gewesen war, fand in Nachfolge des spätantiken weströmischen Teils im westeuropäischen Superstaat Karls des Großen zu einer neuen Gestalt, die unvergessen blieb und als westeuropäischer Traum den Westeuropäern seitdem genug Energie verlieh, nicht vor dem Osten zu verzagen und sich von sich selbst zu entfremden. 

Aus dem Osten dräuen stets Gefahren, mal sind es die byzantinischen Griechen, dann Mongolen, Araber oder Türken. Daß wir heute in der westlichen Wertegemeinschaft leben, verdanken wir transnationalen Orientierungshelfern und Tüftlern im Mittelalter, die im richtigen Moment die richtigen Waffen erfanden, die Westeuropa stark machten gegenüber dem wechselnden, aber immer gleichen Feind unserer Wertegemeinschaft: „Aus seinem öden Ost daher/ soll er sich wagen nimmer mehr“. Das erwartet knapp und bündig König Heinrich in Richard Wagners Oper Lohengrin, gleiches wünscht, mit vielen Worten und Redensarten spielend, der bekennende westeuropäische Wertegemeinschaftler Dan Jones. 

Dan Jones: Mächte und Throne. Eine neue Geschichte des Mittel-alters. C. H. Beck, München 2023, gebunden, 793 Seiten, 38 Euro