Sechzehn Jahre ist es her, daß US-Präsident Barack Obama für sein Land die „Hinwendung nach Asien“ erklärte. Der Grund: der nicht nur wirtschaftliche Aufstieg des kommunistischen Chinas und die neue Haltung Washingtons, Peking immer weniger als internationalen Partner und immer mehr als Konkurrenten, ja als systemischen Rivalen zu betrachten. Inzwischen sorgt auch in Deutschland diese Rivalität aufgrund der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Land der Mitte für Besorgnis. Schon vor Jahren gab es dazu erste, zum Teil alarmistische Veröffentlichungen in Deutschland, etwa von Jonathan Holslag (Warum in Asien Krieg droht, Hamburg 2015) oder Michael Paul (Kriegsgefahr im Pazifik, Baden-Baden 2017).
Heute hat dieses Thema deutlich Konjunktur. Eine dieser typischen und deshalb erwähnenswerten Neuererscheinungen ist das Buch von Matthias Naß, „Kollision. China, die USA und der Kampf um die weltpolitische Vorherrschaft im Indopazifik“. Der Autor war Fulbright-Stipendiat in den USA, langjähriger Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit und kennt Ostasien somit aus eigener Erfahrung. Sein Buch darüber, soviel vorweg, ist gut lesbar, zwar eher beschreibend als analytisch, aber als erste Information durchaus zu empfehlen. Ärgerlich ist dabei, daß der Autor auf die entsprechende deutsche Fachliteratur nahezu vollständig verzichtet und sich fast ausschließlich auf die anglo-amerikanische Literatur stützt.
Dies merkt man dem Buch dann auch deutlich an. Typisch ist das Buch auch deshalb, weil es das aktuelle Narrativ vom Kampf zwischen „Demokratie und Autokratie“ in der aktuellen geopolitischen Auseinandersetzung zum Maßstab nimmt, die internationale Entwicklung einzuordnen und zu bewerten. Dies läßt die teilweise doch recht unterschiedlichen Interessen der Mächte etwas unterbelichtet.
In sechs Kapiteln werden dabei das Ringen der „Weltmächte“, Konflikte und Kriegsgefahren, die Großmachtpolitik, neue Allianzen, europäische Interessen beschrieben, bevor es dann im letzten Kapitel darum geht, daß „die Supermächte ihre Truppen sammeln“. Leider wird dabei nicht groß zwischen Supermächten, Weltmächten, Großmächten und „mittleren Mächten“ unterschieden, was gerade die möglichen Spielräume wichtiger Länder unterbelichtet läßt und so einiges zum Bipolarismus des Buches beiträgt. Typisch hier die Aussage: „Politisch stehen sich zwei entgegengesetzte Vorstellungen von der künftigen Weltordnung gegenüber. Soll die Forderung nach staatlicher Souveränität im Vordergrund stehen oder der Schutz des Ìndividuums?“ Ja, ist dies denn wirklich ein Gegensatz?
Besonders bemerkbar wird dieser Bipolarismus bei der Erörterung „europäischer Interessen“, die auf diese Weise recht summarisch bleibt, auch wenn dabei nach Ländern unterschieden wird. Dabei vernächlässigt der Autor Unterschiede und geopolitische Abhängigkeiten und Möglichkeiten, was vor allem für Berlin gilt, gerade auch im Kontrast zu Ostasien, wo Südkorea und Japan eine deutlich selbstbewußtere Rolle spielen, Schritt für Schritt und durchaus konsequent. Um so ärgerlicher, daß hier ein Länderbericht über Südkorea fehlt, das gerade im sicherheitspolitischen Bereich deutlich neue Wege geht, bis hin zum Bau strategischer und mit Mittelstreckenraketen ausgerüsteter U-Boote zur Abschreckung. Auch die Entwicklungen in Japan seit Ministerpräsident Shinzo Abe werden allenfalls kurz angerissen, auch wenn Naß zu Recht Abe als nationalkonservativen und „weit vorausdenkenden Außenpolitiker“ würdigt, auf dessen Politik, so wäre hier zu ergänzen, nach wie vor die sicherheitspolitische Strategie des Landes aufbaut: „Er wollte ein Japan, das die Nachkriegszeit hinter sich ließ.“
Dazu ein Beispiel, das Naß erwähnt: Japan hat bereits lange vor Deutschland eine neue Nationale Sicherheitsstrategie beschlossen und handelt auch danach, etwa durch die Verdoppelung des Wehrhaushalts und den Aufbau einer strategischen Gegenschlagkapazität, während Deutschland stattdessen auf die Chimäre eines europäischen Luftabwehrsystems setzen will. Darüber hinaus beurteilt der regierungsnahe Thinktank „Stiftung Wissenschaft und Politik“ die bundesdeutsche „Nationale Sicherheitsstrategie“ vorsichtig, aber deutlich als „solides Status-quo-Dokument“, bemängelt zu Recht, sie sei vor allem eine „Aneinanderreihung bekannter Maßnahmen“, „teilweise wirkichkeitsfremd“, „ohne eigene Visionen“ und beinhalte für Deutschland die Gefahr, „noch mehr zum Spielball der Großmächte“ zu werden.
Der Kontrast zu Japan und Südkorea könnte kaum größer sein. Leider ist dies für Naß kein Thema, obwohl es auch die realistische und aktuelle Einschätzung der Lage in Ostasien durchaus befördert hätte. Ähnliches gilt auch für die deutschen „Leitlinien zum Indo-Pazifik“, die noch die damalige große Koalition im September 2021 beschlossen hat, die „vor allem von Vorsicht“ und Zurückhaltung geprägt sei. Und anders als Deutschland zehn Jahre später schuf Abe bereits 2013 „einen Nationalen Sicherheitsrat nach amerikanischem Vorbild“, zur Kordination der Außenpolitik und Erhöhung der Krisenstabilität.
Zustimmen kann man Naß aber, wenn er zum Abschluß festhält: „In einer idealen Welt würde ein friedlicher Wettbewerb über das bessere Regierungssystem entscheiden. In der Welt aber, wie sie ist, geht es um einen ideologisch aufgeladenen Machtkampf, um Einflußsphären, um rohen Vorteil, letztlich um die Frage, wer als Nummer eins unter den Nationen künftig den Ton angibt. Die beiden Supermächte müßten eigentlich alle Kraft darauf richten, eine Kollision zu vermeiden. Stattdessen sammeln sie ihre Truppen.“
Naß weist darauf hin, daß die internationale Entwicklung „die Kriegsgefahr wachsen läßt“. Fraglich ist allerdings, wann dies in Berlin für substantielle Änderungen sorgt. Die sogenannte „Zeitenwende“ ist heute noch stärker erkennbar als vor einem Jahr nicht viel mehr als ein Etikettenschwindel, die Bundeswehr heute sogar schwächer als damals. Eine realistische Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik gibt es weder angesichts des Ukraine-Krieges noch im Hinblick auf die Entwicklungen in Ostasien. Letztendlich bestätigt auch Autor mit seiner Darstellung die Kritik früherer Autoren, die einen deutschen „außenpolitischen Autismus“ (Michael Paul) oder „infantile Mündel-Mentalität“ (Thorsten Hinz) konstatierten. Eine etwas deutlichere Sprache hätte dem Buch daher gerade mit Blick auf das deutsche Publikum durchaus gutgetan. Und das nicht nur mit Blick auf Ostasien.
Matthias Naß: Kollision. China, die USA und der Kampf um die weltpolitische Vorherrschaft im Indopazifik. C.H. Beck, München 2023, gebunden, 282 Seiten, 26,90 Euro