© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/23 / 20. Oktober 2023

Original und Kopie
Literatur: Der russische Schriftsteller Boris Pasternak hat eine zentrale These des Berliner Geschichtsdenkers Ernst Nolte vorweggenommen
Thorsten Hinz

Für die meisten Historiker und Journalisten war es ein Sakrileg und eine persönliche Kränkung, als der Historiker Ernst Nolte die NS-Verbrechen, insbesondere den Mord an den Juden, zu historisieren unternahm, indem er einen Zusammenhang mit dem Revolutionsterror und den Massenmorden in Rußland während und nach der Revolution herstellte und sie sogar als deren „Kopie“ bezeichnete. „Diese Kopie war um vieles irrationaler als das frühere Original“, erläuterte Nolte in einem 1980 gehaltenen Vortrag, was „aber nichts an der Tatsache (ändert)“, daß es „eine Reaktion oder verzerrte Kopie und nicht ein erster Akt oder das Original war“.

In dem Artikel schließlich, der im Sommer 1986 den sogenannten Historikerstreit auslöste, spitzte er seine These in Frageform zu: „War nicht der ‘Archipel GULag’ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‘Klassenmord’ der Bolschewiki  das logische und faktische Prius des ‘Rassenmords’ der Nationalsozialisten?“ Der Historikerkollege Heinrich-August Winkler schnappatmete damals, Nolte habe etwas festgestellt, „was bis heute noch kein deutscher Historiker bemerkt hatte“.

Doch nicht Nolte, sondern dem russischen Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Boris Pasternak (1890–1960), Autor des Romans „Doktor Schiwago“, gebührt das Urheberrecht. In seinem Bericht „Fahrt zur Armee“, der am 20. November 1943 in der Gewerkschaftszeitung Trud („Arbeit“, „Werk“) erschien, stellte er einen kausalen Zusammenhang zwischen der nachrevolutionären Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland her.

Pasternak fühlte sich eng mit Deutschland verbunden

Pasternak berichtete zunächst über seine Eindrücke in den zurückeroberten, völlig zerstörten Gebieten und Städten. „Orjol gibt es nicht mehr.“ Wo einst die Geburtsstadt Iwan Turgenjews lag, türmten sich jetzt „riesige, formlose Schutthaufen“. Dem Betrachter „schwindelt der Kopf, die Augen versagen den Dienst, man möchte um Barmherzigkeit flehen und vor Mitleid und Gram losschluchzen“.

Boris Pasternak war die enge Verbundenheit mit Deutschland, mit der deutschen Kultur, quasi in die Wiege gelegt. Sein Vater war Kunstprofessor in Moskau, die Mutter eine bekannte Pianistin. Beide waren jüdischer Herkunft. Die Spitzen der russischen Hochkultur gingen bei ihnen ein und aus. Als Zehnjähriger lernte Pasternak Rilke kennen, der Rußland bereiste. Seine Verehrung für ihn währte lebenslang. Von 1912 bis 1914 studierte Pasternak Philosophie in Marburg. 1921 exilierten die Eltern und Geschwister nach Deutschland, 1938 weiter nach England.

Selbst jetzt, 1943, drückte Pasternak gegenüber Deutschland keinen Haß aus. Ihn bewegte ein tiefer Schmerz. „Man kann nicht ein Bösewicht gegenüber anderen sein, ohne nicht auch gegen sich selbst ein Lump zu sein. Die Niedertracht ist universell. Wer das Gebot der Nächstenliebe verletzt, verrät als erstes sich selbst.“ Die hier entscheidende Passage aber lautet: „Das Bestürzende am Hitlerismus ist, daß Deutschland mit ihm sein politisches Erstgeburtsrecht verloren hat. Seine Würde ist für eine Nebenrolle geopfert worden. Deutschland ist zu einer reaktionären Fußnote der russischen Geschichte geschrumpft. Wenn das revolutionäre Rußland einen Vexierspiegel benötigte, der sein Gesicht zur Grimasse des Hasses und der Verständnislosigkeit verzerrt, so steht es jetzt vor einem solchen: Deutschland hat es unternommen, ihn anzufertigen. Die Unternehmung ist zweitrangig, provinziell deutsch, und der Provinzialismus fällt um so mehr ins Auge, als er in universalen Dimensionen auftritt.“

Halten wir fest: Die russische Revolution war für Pasternak das Primärereignis, die Hitlerische „Unternehmung“ hingegen zweitrangig, ein deformiertes Spiegelbild, ein Reflex, eine Reaktion darauf. Natürlich konnte seine Darstellung der tatsächlichen Lage nicht ganz entsprechen. Die Oktoberrevolution 1917/18, das nachrevolutionäre Rußland und die Sowjetunion unter Stalin waren bereits „Grimasse“ genug und mußten nicht erst zum Schreckensbild „verzerrt“ werden. Der Medusa-Effekt konnte höchstens gesteigert werden. Doch das konnte Pasternak, wenn ihm sein Leben lieb war, damals unmöglich schreiben. Außerdem standen 1943 der Patriotismus und die Verteidigung des eigenen Landes im Vordergrund.

Vom Holocaust hatte der russische Autor keine Kenntnis

Ursprünglich hatte Pasternak ein romantisches Verhältnis zur Revolution. Obwohl ihn der Terror abstieß, war er der Familie nicht ins Exil gefolgt. In den 1920er Jahren lebte er längere Zeit in Berlin. Seinem Kriegsbericht kann man immerhin eine vorsichtige Distanzierung entnehmen. Die Oktoberrevolution interpretierte er als „eine Erscheinung der nationalen Sittlichkeit“ im Geiste Tolstois. Über den politischen Aspekt hingegen „erlauben wir uns kein Urteil, das ist nicht unser Fachgebiet“.

Stalins „Großer Terror“ hatte seinen Freundeskreis unmittelbar berührt. Anna Achmatowa und ihre Angehören mußten Furchtbares erdulden. Der Lyriker Ossip Mandelstam, für den Pasternak sich zunächst erfolgreich eingesetzt hatte, war Ende 1938 im ostsibirischen Gulag bei Wladiwostok elendig verreckt.

Vom Holocaust ist im Bericht keine Rede, von ihm hatte Pasternak keine Kenntnis. Grundsätzlich aber nahm er aus russischer Sicht vorweg, was Nolte später aus deutscher Perspektive feststellte. Auch der Hinweis Pasternaks auf den „Provinzialismus“ des Nationalsozialismus findet in Noltes Werk mehrere Entsprechungen. Im „Europäischen Bürgerkrieg“ heißt es zum Beispiel, die nationalsozialistischen Greuel seien „in der Sache Kopien sowjetischer Methoden (gewesen), aber Kopien, denen jede Art von Appell und Überzeugungskraft fehlten, weil sie nur Nation gegen Nation zu setzen verstanden“. Die russische Revolution dagegen appellierte an die gesamte Menschheit und versprach ihr ein neues, ein Goldenes Zeitalter. Diese Vision blendete viele Zeitgenossen in Ost und West, so daß sie den Terror und die Massenmorde in der Sowjetunion einfach übersahen.

Die Textgrundlage für die 1991 im Aufbau-Verlag in (Ost-)Berlin erschienene deutsche Übersetzung in: Boris Pasternak: „Prosa und Essays“, bildete eine russische Werkausgabe aus dem Jahr 1982. In der DDR waren die Übersetzungen russischer Autoren in der Regel vorzüglich, doch ausgerechnet die zitierte, zweite Textpassage über den Hitlerismus ist hier kaum verständlich. Offenbar war die Übersetzerin von dem Sinngehalt überfordert. Daher wurde eine Übersetzung aus dem Band „Staatskunstwerk. Kultur im Stalinismus“ benutzt, erschienen 1992 im ungarischen, für das Ausland zuständigen Corvina Verlag. Dort findet sich auch die Anmerkung, daß die Schrecken in der Sowjetunion bereits ihr eigener „Zerrspiegel“ waren. Die Ungarn hatten den klareren Blick.