© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/23 / 20. Oktober 2023

Bücher zur Herzensbildung Wassermann, Hexe, Räuber
Hotzenplotz: Zum hundertsten Geburtstag des Kinder- und Jugendbuchautors Otfried Preußler
Irmhild Bossdorf

Der Räuber Hotzenplotz erwartete uns schon an der Haustür, mit großem Räuberhut und den sieben Messern im Gürtel. Bunt angemalt war er, aus Holz ausgesägt und in der Hand hielt er einen Teller mit Süßigkeiten, an denen sich die Nachbarskinder bedienten. Hier also, im Rübezahlweg, wohnte Otfried Preußler. Kurz vor der Jahrtausendwende habe ich ihn in Haidholzen bei Rosenheim für die JUNGE FREIHEIT interviewt (JF 22/99). Den Kontakt zu ihm hatte mein akademischer Lehrer Hellmut Diwald vermittelt, die beiden Sudetendeutschen waren Freunde, der eine böhmischer, der andere mährischer Herkunft. 

Ich erinnere mich gut an den herzlichen Empfang: Es gab frischen Pflaumenkuchen mit Schlagsahne an der Kaffeetafel der Eheleute Preußler. Und schon waren wir mitten im Gespräch über den „Räuber Hotzenplotz“, den schon meine Eltern uns Kindern und ich später meinen eigenen Kindern vorgelesen habe. Denn Pflaumenkuchen mit Schlagsahne sollte es in jener Geschichte erst wieder geben, wenn der Ganove gefaßt und die Großmutter die von ihm geraubte Kaffeemühle zurückerhalten hätte.

Otfried Preußler, jener grandiose Geschichtenerzähler, wurde am 20. Oktober 1923 im nordböhmischen Reichenberg geboren. Seine Vorfahren waren seit dem 15. Jahrhundert als Glasmacher und Kleinbauern im Iser- und Riesengebirge ansässig. Brechschmied von Morchenstern und der „Wunderdoktor“ Johann Josef Kittel in Schumburg sollen sich ebenfalls unter den Ahnen befunden haben, beiden wurden Zauberkräfte zugeschrieben.

Preußler erzählte, daß er schon als Kind gerne Geschichten gelesen habe, aber „Geschichtenerzählergeschichten“ wie die von seiner Großmutter Dora seien zeitlebens durch kein Buch übertroffen worden. Beide Elternteile waren sprachbegabt und sprachverliebt, beide Lehrer, der Vater zudem Heimatkundler. Die in Böhmen verbrachte Kindheit und Jugend hat Preußler zeitlebens geprägt, sie findet sich in vielen seiner Geschichten wieder.

Ein jähes Ende fand sie, als Preußler im März 1942, zwei Tage nach dem abgelegten Abitur, eingezogen wurde und als 21jähriger im Sommer 1944 als Leutnant in Bessarabien in Kriegsgefangenschaft geriet. Fünf Jahre verbrachte er in verschiedensten sowjetischen Lagern im Gebiet Kasan; vierzig Prozent seiner Mitgefangenen, so berichtet Preußler, haben diese Zeit nicht überlebt. Ihn selbst habe Joseph von Eichendorff über diese Zeit gerettet. Dessen Gedichte hatten ihn schon als Schüler begeistert, bestimmte Motive wie das Mühlrad, die sumpfige, feuchte Landschaft, gewisse Tiere und vor allem Vögel tauchen auch bei Preußler immer wieder auf. „Eichendorffisch“, so habe er sich mit seinen Kameraden im Bogen zwischen Kursk und Orjol in den vom Mondlicht versilberten lauen Nächten an der Front gefühlt.

Später in der Gefangenschaft, fernab jeder deutschen Literatur, habe er sich der Eichendorff-Gedichte erinnert und diese auf Papierfetzen niedergekritzelt. Schließlich habe der Schlesier Eichendorff das „reiche Erbe des deutschen Ostens“ verkörpert, jener Heimat, in die Preußler nach dem verlorenen Krieg nicht mehr zurück konnte. Jahrzehnte danach, 1990, erhielt er den Eichendorff-Literaturpreis.

Ihn selbst verschlug es nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft ins bayerische Stephanskirchen, wo seine Verlobte aus Reichenberger Zeiten auf ihn wartete. Mit ihr gründete er eine Familie, die jüngste seiner drei Töchter, die promovierte Historikerin Susanne Preußler-Bitsch, ist heute seine Nachlaßverwalterin.

Mit Beiträgen für den Kinderfunk finanzierte Preußler sich seine Ausbildung zum Volksschullehrer. Die Kinder, die er als „Schulmeister“ – eine Bezeichnung, auf die er selbst großen Wert legte – unterrichtete, erzählten bei seinen Büchern mit und so entstand 1956 „Der kleine Wassermann“, mit dem er einer Leitfigur des westslawisch-ostdeutschen Grenzbereichs ein Denkmal setzte. Für Kinder zu schreiben sei sehr anspruchsvoll, betonte Preußler immer wieder, denn ein Kinderbuchautor müsse „immer mit Leib und Seele dabei sein“ und „Lebenskraft“ daran geben.

Nur ein Jahr später erschien „Die kleine Hexe“, bei der Moralvorstellungen hinterfragt wurden. Eine gute Hexe zeichnet sich eben nicht dadurch aus, daß sie Duft an Papierblumen zaubert, damit das arme Mädchen sie verkaufen kann, oder den Ochsen Korbinian vor der Schlachtung rettet – die großen Hexen, die sich auf dem Blocksberg treffen, meinen, eine gute Hexe müsse vor allem böse sein, und bestrafen daher die kleine Hexe.

In der „Dummen Augustine“, 1972 erschienen, springt diese für ihren plötzlich erkrankten Mann als Zirkusclown ein, obwohl sie sich vorher nur als Hausfrau und Mutter betätigt hat. Sie wird bejubelt und tritt fortan immer mit ihrem Mann gemeinsam auf. Gegen eine versuchte feministische Vereinnahmung des Buches wehrte sich Preußler heftig. Überhaupt konnte er der ganzen 68er-Bewegung und dem damit verbundenen Zeitgeist nichts abgewinnen. Ihn ärgerte vor allem das Miesmachen der Kindheit, die er dort verortete.  

Preußler verwahrte sich gegen jede „Sauerkitsch“- oder „Bitterkitsch-Literatur“, wie er sie nannte, bei der Kindern zugemutet werde, die Probleme der Erwachsenen zu lösen. Kinder sollten nicht mit Herausforderungen konfrontiert werden, die Erwachsene selbst nicht lösen könnten. Kinder benötigten eine „grundlegende Herzensbildung“, zu der Preußler Tugendhaftigkeit und Phantasie zählte.

Beispielhaft dafür ist der „Räuber Hotzenplotz“, den Preußler in nur drei Monaten niederschrieb. Petrosilius Zwackelmann, Wachtmeister Alois Dimpfelmoser, die Fee Amaryllis und Frau Schlotterbeck, die aus Versehen ihren Dackel Wasti in ein Krokodil verwandelte, sind Namen, die kein Kind je wieder vergessen wird. Mit einem unglaublichen Sprachwitz erzählt Preußler vom tollpatschigen Hotzenplotz und der gewieften Großmutter, der es gelingt, den Räuber, der angeblich „Knallpilze“ gegessen hat, an einen Stuhl zu fesseln.

Die Geschichte vom Hotzenplotz, dessen Namensgeber übrigens ein kleines böhmisches Dorf ist, wurde bereits viermal verfilmt. 1974 mit dem legendären Gert Fröbe in der Rolle des Räubers, 2007 und 2022 folgten Neuverfilmungen. Auch eine Version der „Augsburger Puppenkiste“ gesellt sich dazu. Auffällig ist dennoch, wie wenig die anderen Preußler-Bücher als Filmvorlage dienten. 

Marco Kreuzpaintner wagte sich 2008 an den „Krabat“ – ihm gelang es, die finstere Atmosphäre des Romans einzufangen. In der sorbischen Sage, die zuerst von Martin Nowak-Neumann als „Meister Krabat“ niedergeschrieben wurde, gerät der der Waisenjunge Krabat in eine Mühle im Koselbruch, wo er eine Lehre als Müller antritt und gleichzeitig in der Kunst der schwarzen Magie unterrichtet wird. Einzig von einem Mädchen kann Krabat von seinem Schicksal erlöst werden. Preußler arbeitete mehr als zehn Jahre an diesem Buch, das 1971 erschien. Allein für die Recherche des Ortes benötigte er drei Jahre, die Geschichte verlegte er nach Schwarzkollm bei Hoyerswerda, einem wegen seiner Lage in der damaligen DDR kaum erreichbaren Ort. Er selbst meinte: „Mein Krabat ist meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation und die aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“ Für „Krabat“ erhielt Preußler, der es fast mit jedem seiner Bücher auf die Auswahlliste geschafft hatte, 1972 endlich den „Deutschen Jugendbuchpreis“.

Als Mittler zwischen Tschechen und Deutschen sah sich Preußler zeitlebens und beklagte, daß die Mittlerrolle heute nicht mehr gefragt sei. Die Vertreibung war ein „himmelschreiendes Verbrechen“, so Preußler, das sähen auch viele Tschechen so. Seine böhmische Heimat hat Preußler nach 1965 gemeinsam mit seiner Ehefrau Anneliese oft bereist, dabei auch sein Elternhaus, in dem noch die Bilder und sein Klavier gewesen seien, besucht: „Ich will wirklich nichts von den Tschechen, ich will wirklich nur, daß die historische Gerechtigkeit walten möge. Aber davon sind wir noch weit entfernt.“ 

Preußler übersetzte schon Anfang der sechziger Jahre das Kinderbuch „Kater Mikesch“ von Josef Lada aus dem Tschechischen. Die Verfilmung der Geschichte des sprechenden Katers aus dem Dorf Holleschitz, der gemeinsam mit dem Schusterjungen Pepik und dem Schwein Paschik anderen Tieren das Sprechen beibringen möchte, erfolgte nur ein Jahr später durch die „Augsburger Puppenkiste“. Mikesch nimmt Reißaus, weil er den Rahmtopf der Großmutter zerbrochen hat, und wird an einen Zirkus verkauft, bis er vor Heimweh fast umkommt. Es ist übrigens einer der ersten Fälle von Zensur, schon in den achtziger Jahren wurden aus den „bösen Zigeunern“, die Mikesch gefangen genommen hatten, „fahrende Leute“.

Preußler gebührt das Verdienst, ein literaturfähiges Deutsch für Kinder geschrieben zu haben, eine klare, reine Sprache ohne Fremdwörter. Die Rechtschreibreform lehnte er ab. Diese sei ein „Beitrag dazu, unsere Identität auszuhöhlen, genauso wie die Tatsache, daß man heute keine Fraktur mehr lernt und daher viele Texte einfach nicht mehr lesen kann“. „Überflüssig und absurd“ sei diese Reform gewesen und es habe ihn geärgert, daß die Kultusminister „ohne jegliche demokratische Legitimation“ ein solches Gesetz beschlossen hätten. 

Preußler starb kurz vor seinem 90. Geburtstag am 18. Februar 2013. In dieser Woche wäre er hundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlaß zeigt das Sudetendeutsche Museum im Münchner Stadtteil Au bis zum 12. November die Ausstellung „Ein bißchen Magier bin ich schon … Otfried Preußlers Erzählwelten“ und die Humboldt-Bibliothek in Berlin-Reinickendorf bis zum 18. November eine große Geburtstagsausstellung.

Otfried Preußler: Der kleine Wassermann. Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart, gebunden, 112 Seiten, 15 Euro

Otfried Preußler: Die kleine Hexe. Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart, gebunden, 112 Seiten, 15 Euro

Otfried Preußler: Der Räuber Hotzenplotz. Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart, gebunden, 120 Seiten, 15 Euro

Otfried Preußler: Das kleine Gespenst. Sonderausgabe mit vierfarbigen Illustrationen. Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart 2023, gebunden, 128 Seiten, 18 Euro

Otfried Preußler: Krabat. Schmuckausgabe mit Bildern von Mehrdad Zaeri. Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart 2023, gebunden, 320 Seiten, 28 Euro