© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/23 / 20. Oktober 2023

Grüße aus … La Paz
Unten pfui, oben hui
Stefan Michiels

Die Anfahrt aus Peru gestaltet sich wie ein perfekter Staffellauf. Im fliegenden Wechsel zwischen Überlandbus, Sammeltaxi und Tuk-Tuk komme ich der bolivianischen Grenze rasch näher. Mein Ziel: Copacabana am Titicacasee, ein Städtchen, das dem berühmten brasilianischen Strand angeblich seinen Namen verlieh. Was ich mir erhoffe: ein unverfälschtes Erlebnis der lokalen Indiokultur. Was ich bei der Ankunft im Ort bekomme: Pizza und Bier zu lauter Reggaemusik. Am nächsten Tag marschiere ich das hüglige Ufer entlang, bis der Einbruch der Dunkelheit mich überrascht. In einem Flecken klopfe, nein, hämmere ich den einzigen Taxifahrer aus dem Feierabend. Schnell löst Don Dinero mein Transportproblem, wie überhaupt Geld in Lateinamerika ganz erstaunliche Problemlösungsfähigkeiten besitzt.

Ein Stadtzentrum ist nicht erkennbar, das Straßennetz kennt keinen flachen Meter.

Der Besuch der Isla del Sol, der heiligen Insel der Inkas, erweist sich als ein Höhepunkt der ganzen Reise. Vom Inselkamm eröffnet sich ein überwältigender Rundumblick auf den höchstgelegenen See der Erde. In der Längsrichtung scheint sich das Ende der satt blauen Wasserfläche dem Auge zu entziehen, in der Breite sind seine braunen, baumlosen Ränder aber deutlich erkennbar. Dahinter türmen sich gen Osten die gewaltigen, schneebedeckten Gipfel der Kordilleren auf. Auf den Inkatreppen kommt mir ein Trupp keuchender Italiener entgegen. Genüßlich weise ich sie darauf hin, daß sie immerhin schon einen Bruchteil der Wegstrecke nach oben geschafft hätten. Soviel Sadismus muß bei der dünnen Höhenluft sein. Immer wieder komme ich mit anderen Touristen aus dem Westen ins Gespräch, unser Seltenheitswert führt uns zusammen. Nicht wenige sind frisch gebackene Uniabsolventen, die die Umbruchszeit in ihrer Vita nutzen wollen, wohlwissend, daß spätere Gelegenheiten für derartige Fernreisen rar gesät sind.

La Paz ist eine Stadt, wie es sie wohl kein zweites Mal gibt, im Guten wie im Schlechten. Ein Stadtzentrum, das den Namen verdient hätte, ist nicht erkennbar. Das Straßennetz kennt keinen flachen Meter, viele Straßen sind so steil, daß der Bürgermeister Wanderpässe ausgeben sollte. Ich komme im Dunkeln an, als die Bürgersteige schon hochgeklappt sind. Genervt vom ständigen Umkurven der Pinkelpfützen buche ich in Rekordzeit den ersten Flug raus. Was für eine Enttäuschung. Am nächsten Morgen realisiere ich, daß die Stadt doch mehr zu bieten hat. La Paz liegt in einem gewaltigen, hunderte Meter tiefen Canyon. Die Höhenunterschiede werden durch das längste Gondelsystem der Welt überwunden, quasi eine Metro in der Luft. Von der Kante hoch oben bietet sich ein einzigartiges Panorama auf das Häusermeer, das die Abhänge der Schlucht hochschwappt. Fazit: Unten pfui, aber oben hui.