Wieso geben Sie uns ein Interview – haben Sie vielleicht die JUNGE FREIHEIT mit der „Jungen Welt“ verwechselt?
Wolfgang Streeck: Welt oder Freiheit, Hauptsache jung. Ich rede mit jedem, bei dem ich einigermaßen sicher sein kann, daß er mich nicht einsperren oder sonstwie aus dem Verkehr ziehen würde, wenn er könnte. Etwas gravitätischer formuliert: Wenn wir nicht gegeneinander Krieg führen wollen, müssen wir miteinander reden – nicht nur aufeinander einreden.
In der Berliner Bibliothek des Konservatismus haben Sie unlängst einen Vortrag gehalten, in dem Sie für mehr konservative Kapitalismuskritik plädierten. Weshalb, gibt es keine von links mehr?
Streeck: Bei uns in Deutschland weniger als vorher. Heute geht es gegen Autoritarismus oder was man darunter versteht, nicht mehr gegen Kapitalismus: gegen Orbán statt gegen Microsoft. Der Konsumkapitalismus hat es geschafft, den Antiautoritarismus der siebziger Jahre in einen für ihn profitablen, seine Anhänger repressiv-sublimierend (Marcuse) stillstellenden way of life zu verwandeln. In eine Lebensweise für „den Einzelnen und sein Eigentum“ – Kapitalismus als Hoflieferant von „Wohlgefühl in der Entfremdung“, so der unvergleichliche Adorno. Oder sehr vergleichlich ich: auf der Handlungsebene aufrechterhalten durch coping, hoping, doping, shopping. Stichworte sind Konsumismus, Meritokratie, Individualismus, Entpflichtung, jedem seine Playlist, weg mit dem „Ärgernis der Gesellschaft“ (Dahrendorf), alles auf Pump etc. – bis der Krug bricht, der doch so lange zum Brunnen gegangen ist.
In den Diskussionen um den Kurs der Partei Die Linke wird häufig vom Modell „Linkskonservatismus“ gesprochen. Unter anderem Parteiikone Sahra Wagenknecht vertritt diese Strategie. Ist die Wortschöpfung kein Selbstwiderspruch, wie Pizza und Ananas?
Streeck: Sie ist ja ein bißchen mehr als eine „Parteiikone“, oder? Verglichen mit dem Kapitalismus der „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter) war die Linke immer konservativ. Nämlich insofern, als sie in den vom Kapitalismus immer wieder neu zurückgelassenen Ruinen Erinnerungen an ein versuchtes gutes Leben fand – ohne das jede Gesellschaft zur Hölle werden muß: Mitleid mit dem Schwächeren zum Beispiel, Hilfe für den, der Pech gehabt hat, Treu und Glauben, Nächstenliebe gegen Nächstenverfolgung etc. Nur daß die Linke – anders als diejenigen Konservativen, die unter dem Eindruck des Kapitalismus nicht einfach zu Sozialdarwinisten mutiert sind – die Rettung der Menschlichkeit gegen die Geldlichkeit und die „Plusmacherei“ (Marx) nicht in einer Rückkehr in eine bessere Vergangenheit suchte.
Sondern?
Streeck: In einer durch revolutionäre Praxis aufzubauenden menschengerechten Zukunft – in modernitätsverträglicher statt in reaktionärer Gestalt. Beide, Kapitalismus und Sozialismus, sind revolutionär; sie unterscheiden sich darin, daß der Sozialismus – „die Linke“ – zugleich auch konservativ ist, und daß ein Konservatismus, der es mit dem Kapitalismus hält, nur reaktionär sein kann.
Aber wenn Sahra Wagenknecht etwa die deutsche Automobilindustrie vor dem Aus retten will, dann hört sich das nicht gerade nach „revolutionärer Praxis“ an. Wann kommt die erste Steuersenkung auf dem Weg zum Kommunismus?
Streeck: Im Kapitalismus hängen die Lebenschancen gerade auch der nichtkapitalistischen „kleinen Leute“ vom Spiel der relativen Preise an den Märkten ab, in denen ihre Arbeitskraft gehandelt wird. Relative Preise ändern sich schneller, in Krisenperioden viel schneller, als Sozialstrukturen und die Lebensweisen, die an ihnen hängen, sich ändern können. Menschen können und wollen ihre soziale Existenz – Familie, Freunde, Arbeitsplatz, „Heimat“ – nicht jederzeit „flexibel“ in Anpassung an die „Erfordernisse“ von Markt und Wettbewerb wechseln; wenn sie das versuchten, könnten sie leicht „verrückt“ werden. Als Konservativer müßten Sie das doch eigentlich verstehen.
Na klar!
Streeck: Eine der schwierigsten Aufgaben demokratischer Politik im Kapitalismus ist es, wirtschaftlichen Strukturwandel so zu steuern, daß er die Lebensverhältnisse der Menschen nicht mehr als unbedingt „nötig“ – im Sinne von absolut unabwendbar – zerreißt. Die Wirtschaft soll doch für die Gesellschaft da sein, nicht umgekehrt, oder? Das gilt auch für Automobilarbeiter und die heute um die Automobilproduktion herum gelagerten örtlichen Gemeinschaften. „Vor dem Aus retten“ – na gut. „Den Übergang gestalten“ klänge schon besser, und dazu alle verfügbaren mikro- und makroökonomischen Spielräume zu nutzen. Statt neoliberal-hämisch zuzuschauen, wie „der Markt“ denen, die sich für den falschen Beruf entschieden haben, die Rechnung präsentiert: Pech gehabt! Oder gilt bei Ihnen die Parole „Was fällt, das soll man stoßen!“? Was wäre daran wohl konservativ?
Glauben Sie, Sahra Wagenknecht könnte mit einer eigenen Liste so auftrumpfen, wie Umfragen ihr bescheinigen? Noch ist von der Neugründung jedenfalls keine Spur. Ist Wagenknecht nicht nur ein Scheinriese, der mit Erwartungen spielt? Jetzt mal ehrlich!
Streeck: Ich mache keine Vorhersagen mehr, dafür sind Welt und Politik zu turbulent geworden. Sagen kann ich, daß ich Wagenknecht und ihrer Partei, wenn es eine solche denn geben wird, jeden nur denkbaren Erfolg wünsche. Vor allem auch, weil es ihr vielleicht gelingen könnte, zu verhindern, daß Menschen, die aus Angst vor den Unberechenbarkeiten der kapitalistischen sogenannten Polykrise bestimmten Leuten auf der Rechten – also, wenn ich das so sagen darf, aus Ihrem Lager, wo sie von Ihnen anscheinend geduldet werden – auf den Leim gehen. An diesen Leuten kann ich nichts Konservatives erkennen, außer vielleicht die Utopie einer Ordnung, in der die Utopisten aus biologischen Gründen oben sind und nach unten treten können, wo die sich aufhalten, die aus ebenso biologischen Gründen unten sind und sich damit doch bitte bescheiden mögen – sonst setzt es was! Das ist meine sehr sparsame und hoffentlich zustimmungsfähige Definition von Nazitum.
Heutzutage ist man schon ein „Nazi“, wenn man für Atomkraft ist oder einen Geländewagen fährt. Darf ich Ihre Definition dahingehend korrigieren?
Streeck: Nein, das dürfen Sie nicht. Hier wird es wirklich ernst; daher also etwas ausführlicher. Merke: Man kann ein SUV fahren oder Atommeiler mögen, ohne Fiat-500-Fahrern und Windradfanatikern die Daseinsberechtigung abzusprechen, ohne einen Führer anzubeten oder ohne zwecks kollektiver Gewaltausübung einer SA beizutreten. Welche Autos zugelassen werden und wo unser Strom herkommt, außer aus der Steckdose, können wir getrost dem demokratischen Prozeß überlassen, ungeachtet seiner vielfältigen Unvollkommenheiten: One (wo)man, one vote. Mein persönlicher Rat an Sie: Falls jemand Sie wegen Ihres dicken Autos oder Ihrer Atomaktien einen Faschisten nennt, machen Sie sich nichts daraus und machen Sie einfach weiter; so viel Dummheit verdient keine Antwort.
Viele Linke werfen Wagenknecht vor, mit ihrer „Migrationskritik von links“ das Geschäft der AfD zu betreiben. Hilft Wagenknecht mit ihrer Liste nicht wirklich dabei, die Agenda rechter Parteien in Deutschland als neuen Mainstream zu etablieren?
Streeck: Ich wüßte nicht wie. Das machen ja schon die Parteien des alten Mainstreams – des pensée unique –, der unbekömmlichen Milch der frommen Denkungsart, deren unermüdliche, alle öffentlich-rechtlichen Register ziehende Bemühungen zur Bekämpfung der AfD dieser – ungeachtet ihrer ausgeprägten personellen und gedanklichen Anspruchslosigkeit – die Hasen in die Küche treiben. Einer neuen linken Partei muß es dagegen darum gehen, den Hasen die Angst zu nehmen und sie in Sicherheit zu bringen: raus aus der Küche, rein ins demokratische Leben!
Und eine Liste Wagenknecht könnte das leisten?
Streeck: Vor ein paar Jahren saß ich gemeinsam mit Frau Wagenknecht auf einem Podium in Berlin, der Saal voll mit dem, was man wohl „politisch interessierte junge Menschen“ nennt. In der Fragestunde stand einer von ihnen auf und wollte wissen, ob es uns darum gehe, die Wähler der AfD zur demokratischen Linken zurückzuholen. Ich, ahnungslos: Na, was denn sonst! Das ist hier ja doch noch eine Art von Demokratie. Wenn man verhindern will, daß die Leute die Falschen wählen, muß man ihnen die Chance geben, die Richtigen zu wählen. Danke, sagte der junge Mann, das wollte ich wissen. Jetzt weiß ich, wes Geistes Kind Sie sind, Sie sind für mich unwählbar. Was soll man zu sowas sagen?
Sie haben nichts erwidert?
Streeck: Was ich sagte, war das: Wenn ich durch Köln gehe, steht an der einen oder anderen Hauswand gesprayt „Nazis raus!“, gerne auch mit drei Ausrufezeichen statt nur einem. Manchmal denke ich, gedankenlos: Keine schlechte Idee. Aber dann meldet sich mein Verstand, und ich frage mich: Wen genau meinen die? Wer Nazi ist, bestimmen wir? Und wo ist raus? Wo sollen die hin? Wer nimmt die? Sollen wir die ausbürgern? Sowas hatten wir doch schon mal, und ist deshalb verboten. Träumen die sprayenden Träumer von einem AfD-freien Deutschland am Ende von einem nachgeholten Bürgerkrieg? Nazis nicht wirklich raus, sondern rein – ins Lager? Da wäre ich, solange sich das irgend vermeiden ließe, nicht mit von der Partie.
Die Linke stellt sich derzeit neu auf. Neben der einstigen Chefredakteurin des „Jacobin“-Magazins Ines Schwerdtner kandidiert auch die „Sea Watch“-Kapitänin Carola Rackete für deren EU-Wahlkampf. Können Sie sich als linker Intellektueller vorstellen, politische Verantwortung für eine mögliche Liste Wagenknecht zu übernehmen?
Streeck: Ich werde, wenn sich Anlaß und Gelegenheit ergeben sollten und es der Wahrheitsfindung dient, öffentlich wissen lassen, warum ich einer Liste Wagenknecht im Namen des Volkes alles erdenklich Gute wünsche. Darüber hinaus bin ich für Parteiausschüsse oder Parlamentssitze mittlerweile zu alt; allein schon die ganzen Reisen! Auch hat lange Erfahrung mich überzeugt, daß eine Sache, die scheitern würde, wenn ich nicht mitmachte, auch scheitern würde, wenn ich mitmachte.
Zum Schluß eine Frage an den Wissenschaftler in Ihnen: Welches linke Buch würden Sie jedem Konservativen einmal zur Lektüre empfehlen?
Streeck: Streeck, Wolfgang, 2021, „Zwischen Globalismus und Demokratie. Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus“, Berlin, Suhrkamp.
Prof. Dr. Wolfgang Streeckzählt zu den großen Soziologen der Gegenwart. Für seine kapitalismuskritische Forschung wurde er in die namhafte British Academy berufen. Bis 2014 war der Emeritus Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung und Professor der Universität Köln, zudem lehrte er auch in Florenz, Madrid und New York. Streeck schrieb für Fachzeitschriften wie die renommierte New Left Review und Zeitungen wie FAZ, Zeit, Süddeutsche, NZZ oder den Guardian sowie mehrere Bücher. Zuletzt erschien: „Zwischen Globalismus und Demokratie“ (2021) Seine Karriere begann der 1946 in Lengerich geborene Westfale als Student in Frankfurt bei Theodor W. Adorno.