© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/23 / 13. Oktober 2023

Abhängigkeit eiskalt ausgespielt
Mitte Oktober 1973 führte die Lieferpolitik der OPEC-Staaten zur Ölkrise in der Bundesrepublik
Thomas Schäfer

Am 15. August 1971 verkündete der US-amerikanische Präsident Richard Nixon die Aufhebung der Goldbindung des US-Dollars. Durch diesen „Nixon-Schock“ verlor die Währung der Vereinigten Staaten nachfolgend erheblich an Wert. Das wiederum traf nicht zuletzt die Erdöl-Förderländer, denn Rohöl wurde in Dollar gehandelt. Als Konsequenz hierauf reagierten die Mitgliedsstaaten der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) mit einer Kürzung der Fördermengen. Außerdem setzte die OPEC im Juni 1973 Preiserhöhungen gegenüber den ausländischen Mineralölgesellschaften durch. Damit wuchs das Selbstbewußtsein der zwölf OPEC-Mitglieder, zu denen neun muslimische Staaten zählten, die sich ihrerseits parallel auch in der Organisation der arabischen erdölexportierenden Staaten (OAPEC) zusammengeschlossen hatten. Das bekam der Westen nach Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges am 6. Oktober 1973 (JF 41/23) zu spüren.

Alternativen waren Förderung in der Nordsee und Kernkraftausbau

Mit Beginn des jüdischen Versöhnungsfestes fielen syrische und ägyptische Truppen überraschend in Israel ein und erzielten zunächst einige Anfangserfolge. Dann jedoch gelang es den israelischen Streitkräften, die Angreifer, welche von sechs weiteren arabischen Staaten unterstützt wurden, bis fast nach Damaskus und Kairo zurückzudrängen. Das war nicht zuletzt deshalb möglich, weil die USA im Rahmen der strategischen Lufttransport-Operation Nickel Grass ab dem 14. Oktober Unmengen von militärischem Material an Israel lieferten, um zu verhindern, daß Tel Aviv Atomwaffen gegen seine arabischen Nachbarn einsetzt. Die Reaktion der OAPEC, zu denen auch die Nicht-OPEC-Staaten Syrien und Ägypten zählten, hierauf fiel dennoch drastisch aus: Sie beschloß, ihr Öl als Waffe gegen die USA und die übrigen Unterstützer Israels einzusetzen. Also erhöhte die OAPEC den Listenpreis des begehrten Rohöls der Sorte Arabian Light am 16. Oktober um 70 Prozent. Dem folgte am nächsten Tag die Verhängung eines Öl-Embargos gegen die USA und die Niederlande sowie die nochmalige Drosselung der Förderung um fünf Prozent, worunter auch die anderen westlichen Staaten litten.

Im Zuge der dadurch ausgelösten Ölkrise kletterte der Preis für ein Barrel Rohöl binnen Jahresfrist von drei auf zwölf US-Dollar, obwohl die OAPEC die Ölförderung ab Ende Dezember 1973 auf Vermittlung des US-Außenministers Henry Kissinger wieder hochfuhr. Der Preisanstieg hatte einschneidende Konsequenzen. Plötzlich wurde die Offshore-Ölförderung und die Ausbeutung eigener Vorkommen profitabel. Also begannen Länder wie Großbritannien und Norwegen Bohrinseln in der Nordsee zu errichten; zudem gab es einen Aufschwung beim Einsatz des umstrittenen Fracking-Verfahrens, das die wirtschaftliche Ausbeutung sogenannter unkonventioneller Lagerstätten erlaubte. Dadurch verringerte sich der Anteil des Öls, das bei OPEC- oder OAPEC-Mitgliedern gekauft werden mußte, was wiederum zu geringerer politischer Erpreßbarkeit führte. Um die Abhängigkeit von Lieferungen aus der arabischen Welt in Zeiten geopolitischer Krisen zu reduzieren, legten zudem viele Länder strategische Ölreserven an oder stockten diese erheblich auf.

Dazu kam die Suche nach alternativen Treibstoffen und Energiequellen. Die westlichen Staaten investierten nun verstärkt in die Kernenergieerzeugung sowie in erneuerbare Energien. Außerdem bemühte man sich um eine bessere Wärmedämmung von Gebäuden und die Effizienzsteigerung von Motoren, um deren Kraftstoffverbrauch zu reduzieren. In diesem Zusammenhang wurden erste nationale und internationale Normen eingeführt.

Düstere Lage in vielen Wirtschaftszweigen nach 1973

Erheblich betroffen von der Ölpreiskrise des Jahres 1973 war auch die Bundesrepublik Deutschland. Diese deckte damals 55 Prozent ihres Energiebedarfs mit importiertem Rohöl – und drei Viertel davon stammten aus arabischen Ländern. Dennoch versuchte der Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs (FDP) zunächst abzuwiegeln: Die deutschen Vorräte würden ein halbes Jahr reichen. Ungeachtet dessen schossen die Preise in die Höhe und manche Tankstellen vermeldeten sogar „Benzin ausverkauft!“. Daraufhin beschloß die Bundesregierung die Einführung von Maßnahmen, welche einerseits zu Verbrauchssenkungen führen und andererseits die Bevölkerung für das Thema Energieeinsparung sensibilisieren sollten. So sorgte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) Anfang November 1973 dafür, daß der Bundestag das Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Einfuhren von Mineralöl oder Erdgas (Energiesicherungsgesetz) im Eilverfahren verabschiedete. Dessen Paragraph 1 besagte unter anderem: „Die Benutzung von Motorfahrzeugen kann nach Ort, Zeit, Strecke, Geschwindigkeit und Benutzerkreis sowie Erforderlichkeit der Benutzung eingeschränkt werden.“ 

Und genau das geschah dann auch: Bereits am 25. November kam es erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik zu einem flächendeckenden und umfassenden Fahrverbot; danach mußten die Autofahrer ihre Wagen noch an drei weiteren Sonntagen stehenlassen. Außerdem galt sechs Monate lang eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Landstraßen. Die tatsächlichen Spareffekte blieben allerdings gering, weshalb man auf weitere autofreie Sonntage verzichtete.

1974 mußte die Bundesrepublik für ihre Ölimporte etwa 23 Milliarden Mark beziehungsweise 153 Prozent mehr bezahlen als im Jahr zuvor, weil die Preise nicht signifikant sanken. Damit endete der Nachkriegsboom, besser bekannt als „Wirtschaftswunder“. Der Pkw-Verkauf brach ein, was die Autohersteller in Schwierigkeiten brachte. Ähnlich düster war die Lage in Wirtschaftszweigen mit hohem Energieverbrauch. Die Arbeitslosenzahl stieg daher von 273.500 Ende 1973 auf 1.074.000 im Jahre 1975. Gleichzeitig ging das Wirtschaftswachstum von acht auf knapp zwei Prozent zurück. Daraus resultierte unter anderem der Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte, welche damals noch „Gastarbeiter“ hießen.

Um das Gespenst eines anhaltenden Energiemangels zu bannen, plante die Bundesregierung zur Mitte der 1970er Jahre den Bau von vierzig Kernkraftwerken – genau so vielen also, wie manche Wissenschaftler heute für nötig halten, um die deutschen „Klimaziele“ zu erreichen. In Betrieb gingen letztlich aber nur 13 Reaktoren. Denn in der Bundesrepublik formierte sich eine laute Anti-AKW-Bewegung, aus welcher im Januar 1980 auch viele Initiatoren der Partei Die Grünen hervorgingen. Der Abbruch des Ausbaus der Atomkraft wiederum sorgte dann in der Folgezeit dafür, daß sich die Bundesregierung bei ihrer Energiepolitik stärker auf die Sowjetunion beziehungsweise Rußland konzentrierte, womit sie die Abhängigkeit von der arabischen Welt sehenden Auges durch eine fatale neue Abhängigkeit ersetzte.