Der 100. Geburtstag des Historikers und Geschichtsdenkers Ernst Nolte (1923–2016) am 11. Januar wurde von den Medien und vom akademischen Betrieb fast vollständig mit Schweigen quittiert. Eine seltene Ausnahme bildete die JUNGE FREIHEIT. Die Ignoranz gegenüber Nolte unterschied sich deutlich von der Resonanz, die das runde Jubiläum des ebenfalls 1923 geborenen Reinhart Koselleck (1923–2006) fand, dem die Universität Bielefeld verdientermaßen eine eigene Veranstaltung widmete. Für Ernst Nolte fand jetzt in der Bibliothek des Konservatismus in Berlin ein quasi privat organisiertes Symposion statt. Der angemessene Ort wäre natürlich die Freie Universität gewesen, wo Nolte von 1973 bis 1991 als Professor für Neuere Geschichte wirkte. Doch das ist unter den gegebenen Umständen ein Ding der Unmöglichkeit, wie der Historiker Hans-Christof Kraus (Universität Passau), einer der beiden Organisatoren, in seiner Begrüßung ausführte. Er nannte das Symposion einen „bescheidenen, ersten Anfang“, um Nolte in den öffentlichen Raum zurückzuholen und – in den Worten des Co-Leiters Uwe Walter (Universität Bielefeld) – aus dem „Orkus des peinlichen Verschweigens“ zu ziehen.
Historikerstreit war politischer und nicht wissenschaftlicher Disput
Kraus hielt auch das erste Referat, das sich der frühen Lektüre Noltes als dessen „Primärerfahrung“ widmete. Der junge Nolte war durch eine körperliche Behinderung von den üblichen Aktivitäten der Altersgefährten weitgehend ausgeschlossen und in die Position des frühreifen Beobachters gestellt. Hellwach verfolgte er in seiner Heimatstadt Witten im Südosten des Ruhrgebiets die Zusammenstöße zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten. Zu seinem nicht eben kindgerechten Lesestoff gehörten die Tagebücher der Exilrussin Alja Rachmanowa, in denen die Schrecken der bolschewistischen Revolution bis in die grauenvollen Einzelheiten beschrieben werden. Der „Rattenkäfig“, der in Hitlers Weltbild einging und in Noltes Werk im Wortsinn und als Metapher eine zentrale Rolle spielt, wurde bereits in der kindlichen Vorstellung als geschichtlicher Einschnitt präfiguriert.
Horst Möller (München), der langjährige Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, referierte über das Buch „Der Faschismus in seiner Epoche“, das Nolte 1963 schlagartig berühmt machte. Seine Pionierarbeit bestand zum einen in der Auswertung unbekannter Quellentexte, zum anderen in seinem komparatistischen, transnationalen Ansatz. Er ging über die marxistische Deutung des Faschismus hinaus und machte ihn als Epochenphänomen verständlich.
FAZ-Redakteur Patrick Bahners sprach zum „Historikerstreit 2.0: Momente der postkolonialen Situation in ‘Deutschland und der Kalte Krieg’“. Der Streit dreht sich – pointiert gesagt – um die Relativierung des Holocaust, die im Zuge der Beschäftigung mit der europäischen Kolonialpolitik auf akademischer, politischer und symbolischer Ebene stattfindet. Im zitierten Werk, das 1974 in Erstauflage und 1985 in einer überarbeiteten Neufassung erschien, hatte Nolte sich auch der Dekolonisierung der Dritten Welt gewidmet und die „Einheit der Welt“ im Negativen konstatiert. Wie vordem in Europa führte die Umsetzung der Fortschrittsideologie zu Anachronismen, zur „Reprise des Faschismus“. Die massenhafte Ausmordung der Kommunisten unter dem indonesischen Diktator Suharto wurde von Nolte als der Versuch herausgestellt, eine Ideologie durch die biologische Eliminierung ihrer Trägerschicht aus der Welt zu schaffen. Dieses Erklärungsmodell übertrug Nolte, so Bahners, später auf den Holocaust.
Gerrit Dworok (Mellendorf) widmete sich der Bedeutung und Nachwirkung des Historikerstreits 1986/87, den Nolte mit einem Zeitungsbeitrag ausgelöst hatte. Es habe sich um keine wissenschaftliche, sondern eine geschichtspolitische Angelegenheit gehandelt. Hintergrund war der Plan von Bundeskanzler Helmut Kohl, in Berlin ein Museum der deutschen Geschichte zu errichten, was Kritiker eine geschichtsrevisionistische Wende argwöhnen ließ. In der Auseinandersetzung ging es erstens um die Suche der Bonner Republik nach nationaler Identität und zweitens um das Verhältnis zur NS-Vergangenheit. Drittens war er ein Kampf um die Deutungshegemonie zwischen linksliberalen und liberalkonservativen Kräften. Im Ergebnis behauptete sich die Idee des Nationalstaates gegenüber postnationalen Konstrukten, blieb das „Gedenken an Auschwitz“ zentral, und die linke Kulturhegemonie wurde befestigt.
In der Diskussion wurde ergänzt, daß Noltes vielzitierte „Niederlage“ sich auf Deutschland beschränkt. International hat dies einen Anstoß zur vergleichenden Gewaltforschung gegeben und die durchweg positive Konnotation des Antifaschismus beendet. Allerdings setzte nun auch die Isolierung Noltes im Wissenschaftsbetrieb ein, wobei er sich durch unnötig zugespitzte Äußerungen zusätzlich angreifbar machte, wie Horst Möller betonte.
Nolte wollte „den Faschismus selbst zu Wort kommen lassen“
Wilko Richter (Bielefeld) hielt einen geschliffenen Vortrag über die phänomenologisch-existenzphilosophische Dimension im Werk Noltes, der nicht nur ein Geschichtsdenker, sondern auch ein Geschichtsphilosoph gewesen sei. Richter widersprach der Auffassung, daß Noltes Objektivitäts-ideal sich von Edmund Husserl herleiten läßt. Laut Husserl mußten die eigenen Erwartungen, Interessen, Intentionen in einem mehrstufigen Reflexionsprozeß überwunden werden, um zur reinen Anschauung des Gegenstandes zu gelangen. Tatsächlich wollte Nolte „den Faschismus selbst zu Wort kommen lassen“ und seine „Wesensschau“ vornehmen. Doch der Faschismus ist eine dynamische soziale Interaktion und kein scharf umgrenzter geometrischer Gegenstand. Richter legte dar, daß für Noltes metahistorische Geschichtsdeutung vielmehr Heideggers „In-der-Welt-Sein“ als eine Grundverfassung des Daseins inspirierend war. Zu ihr gehört das Erschließen von Möglichkeiten und Veränderungen sowie die Angst davor. Eine äußerste Angst manifestierte sich im „Rattenkäfig“.
Heideggers „geworfener Mensch“ sucht nach Konstanten, die er in sogenannten „Existentialien“ findet. Damit war der Bogen geschlagen zum Schlußvortrag von Uwe Walter, der sich dem Spätwerk Noltes „Historische Existenz“ widmete.
Das Symposion war „bescheiden“ in quantitativer, nicht aber in qualitativer Hinsicht. Es war ein Anfang, der Erwartungen weckt. Denn – wie Hans-Christof Kraus sagte – Ernst Nolte hat Einsichten vermittelt, die bei keinem anderen zu finden sind. Horst Möller sprach davon, daß die deutsche Geschichtswissenschaft die Herausforderung, die Nolte ihr gestellt hatte, bisher nicht angenommen hat. Diese Tatsache und die objektiven und subjektiven Gründe dafür wären ein ergiebiges Thema für eine gesonderte Tagung.