Sein Verleger hat es geahnt. Giulio Ricordi hatte sich lange gegen Giacomo Puccinis Idee gesperrt, einen Zyklus von abendfüllenden Einaktern zu komponieren. Man würde die einzelnen Teile aus ihrem Zusammenhang lösen und mit anderen Stücken koppeln, deren Rechte dann womöglich bei Konkurrenzfirmen lägen. Und so kam es auch. Die drei Teile „Il Tabarro“, „Suor Angelica“ und „Gianni Schicchi“, Schauerdrama, Rührstück und Burleske in der Tradition des Grand Guignol (großes Kasperle), gerieten nach ihrer Uraufführung, 1918 an der Metropolitan Opera, auf den Spielplänen jedes für sich in die unsinnigsten Kopplungen, wenn aber zusammen, dann meist ohne das Mittelstück. Erst in den letzten Jahren wurde die Zusammengehörigkeit der Teile allgemein erkannt und szenisch gedeutet. Aber was gehört da zusammen und wie?
Michele, Besitzer eines Lastkahns, und seine Frau Giorgetta haben sich nach dem Tod ihres gemeinsamen Kindes auseinandergelebt, sie verabredet mit einem seiner Löscher, Luigi, die Flucht in ein besseres Leben. Michele erwürgt Luigi und verbirgt den Toten in seinem Mantel. Als Giorgetta hinzukommt, drückt er sie zu dem Toten hinunter.
Schwester Angelica, nach einer unehelichen Geburt seit sieben Jahren in ein Kloster verbannt, erhält Besuch von ihrer Tante, der Fürstin. Angelica soll zugunsten ihrer zu verheiratenden Schwester auf ihr Erbe verzichten. Als Angelica nach ihrem Kind fragt, eröffnet ihr die Fürstin, daß es vor zwei Jahren gestorben sei. Angelica vergiftet sich. Sterbend hat sie die Vision der Gottesmutter, die ihr das Kind zuführt und sie dem Kind.
Puccini prüft tradierte Gattungen und verwirft sie
Der steinreiche Florentiner Buoso Donati ist gestorben, hat jedoch seinen gesamten Besitz testamentarisch dem Kloster vermacht. Widerwillig muß die geprellte Verwandtschaft die Hilfe des bauernschlauen Gianni Schicchi in Anspruch nehmen. Schicchi täuscht Arzt, Notar und Zeugen und diktiert anstelle des Toten ein neues Testament, in dem er sich jedoch selbst mit den wertvollsten Posten bedenkt. Damit ermöglicht er die Ehe des sich liebenden jungen Paars, seiner Tochter Lauretta mit Rinuccio aus dem Hause Donati. Das war Schicchi den Preis seines Seelenheils wert.
Drei Orte, drei Handlungen, drei Zeiten – drei Wirklichkeiten, die sich nicht zu einer Totalität mehr zusammenfügen wollen und doch für das Ganze gelten sollen. Puccini prüft tradierte Gattungen, den Verismo, das Drame lyrique, die Buffa, und damit auch das eigene bisherige Werk und die eigene künstlerische Biographie – und verwirft sie. Hofft der Komponist auf ein Vita nova durch die Fasci di combattimento, wird doch kein Duce seine zerbrochene Welt mehr zusammenzwingen können, kein Virgil wird Dante seine Hölle erklären.
Die Schauspielregisseurin Pinar Karabulut will die Einakter als Triptychon, ihre Inszenierung als Aufstieg von der Hölle über das Fegefeuer hinauf zur Katharsis gedeutet wissen. Vor einem Rundhorizont verstellen allerhand Versatzstücke den Bühnenraum: Treppe ins Nichts oder Stairway to Heaven, Berg des Fegefeuers, kleine Kapelle, im Vordergrund eine Wasserpfütze, umlaufend ein Steg. Hauptsache: kein Milieu! Immerhin spiegeln die Bühne der Michela Flück und die comicartigen Kostüme der Theresa Vergho – und die Regie hernach auch – exakt das Milieu der Regisseurin und ihrer Schicht von Konsumenten eines post-dramatischen, post-migrantischen, post-ideologischen und sonst noch allen möglichen Theaters, dessen Attribute sich mit eben dem Präfix versehen lassen.
Die Sänger behelfen sich mit Authentizitätsgehabe
Die Spannung einer Inszenierung zur Komposition und zur Wirklichkeit entsteht, indem Vorgänge inszeniert werden, die wesentlich durchs Musizieren, durch Musik teils gegliedert, teils organisiert, teils unmittelbar artikuliert, überdies durchs Musizieren, durch Musik kommentiert werden. Damit fremdelt die Regie. Es scheint, als hielte sie Oper für eine Art Schauspiel mit Soundtrack, dessen Zeit gefüllt werden müsse, insbesondere mit emotionalen Zuständen der Figuren – oder doch nur ihrer Sänger. Die behelfen sich mit abgestandenem Authentizitätsgehabe, stürzen sich in seelischer Ausnahmesituation auch schon mal in die Pfütze, womit zumindest das Wasser in Bewegung kommt.
Das Proletariat von „Il Tabarro“ in seinen Lack- und Szenekostümen wirkt, als verwarte es vor einem angesagten Technoklub in wenig anheimelndem Ambiente sein Leben, weil es nicht am Türsteher vorbeigekommen ist. Die Nonnen von „Suor Angelica“ wirken wie geschäftige Funktionäre eines Insektenstaats, ob schädlich oder nützlich, bleibt unentschieden. Hat man bis hierher alle Hoffnung fahren lassen, so scheint nach der Pause die Regie wie ausgewechselt, wenn auch nur kurze Zeit. Den dritten Teil, „Gianni Schicchi“, bringt sie als Commedia dell’arte zum Laufen, zeichnet Typen, nicht Portraits. Doch auf individuelle Marotten reduziert, bleibt auch die Commedia bloß Zitat. Die Zusammengehörigkeit der drei Einakter wird von der Regie durch Hinüberziehen von Figuren, Kostümen, Masken, Erinnerungen und Elementen aus dem einen in den anderen Teil mehr fingiert denn eingelöst.
Die beliebige Personenregie muß auf die gesanglichen Ausformungen durchschlagen. Misha Kiria geht als Michele und Gianni Schicchi routiniert durch den ersten und dritten Teil, Jonathan Tetelman singt den Luigi mit tenoraler Waschbrett-Attitüde, und auch Carmen Giannattasio kann in dieser Konstellation der Giorgetta wenig Relief geben. Mané Galoyan und Violeta Urmana hätten die zentrale Auseinandersetzung zwischen Angelica und der Fürstin zum musikalischen Höhepunkt des Abends treiben können, hätte die Regie sie nicht in ein Kabinett auf die Rückseite des Berges zusammengepfercht, wo leere Positionswechsel der Gegenspielerinnen das Fehlen erzählender Arrangements nur um so schmerzlicher bewußtmachen. Wie gegensätzlich hätte Annika Schlicht, mehr als nur eine Comprimaria, ihre drei Rollen in den drei Teilen, La Frugola, La Suora Zelatrice und die alte Zita, musikalisch ausdifferenzieren können. Andrei Danilov Rinuccios Hymne auf Florenz im dritten Teil hätte nicht ins Leere gehen müssen und Laurettas Arie, die einzige geschlossene Nummer der Oper, nicht nur zu Herzen. Sie alle können viel und könnten doch so viel mehr, als nur emotionale Zustände nachzusingen, die sie für den Zustand der Welt ausgeben. Das ist der Zustand des Theaters.
Wo Orchester- und Chorstimmen unter John Fiores Dirigat Puccinis musikalische Suchbewegung innerhalb der Formen und über sie hinaus aufnehmen, da klingt es wie ein Vorgriff auf die Kurzopern der musikalischen Moderne in den Zwanzigern, die ohne das Vorbild des „Trittico“ so gar nicht komponiert worden wären, und Puccini plötzlich ziemlich unbequem.
Zum Ende hin hängt sich die ganze bucklige Verwandtschaft Buoso Donatis irgendwo und irgendwie über irgendwelche Versatzstücke des Bühnenbildes. Dante findet seine Beatrice, sorry, Rinuccio seine Lauretta auf dem Berg des Fegefeuers, und Schicchi bettelt um Applaus für sein heilstiftendes Verbrechen. Der wird ihm, allen Mitwirkenden, dem Dirigenten und erstaunlicherweise auch dem Regieteam fast einhellig zuteil. Es würde schon ein bißchen „crazy“ aussehen, hatte Pinar Karabulut vor der Premiere versprochen. Ein bißchen mehr „sensible“ hätte es denn doch schon aussehen dürfen.
Die nächsten Vorstellungen von „Il Trittico“ an der Deutschen Oper Berlin, Bismarckstraße 35, finden am 13. und 17. Oktober sowie am 9. und 14. Dezember statt. Kartentelefon: 030 / 343 84 343