Es gibt nicht wenige Menschen, die das gegenwärtige Zeitalter mit der im Rückblick als leidvoll empfundenen McCarthy-Ära in den USA vergleichen. Ja, man versteht sich als liberale Gesellschaft. Ja, man findet die Freiheitsstatue toll. Und ja, natürlich bekennt man sich zu den Bürgerrechten, die Teil des Gründungsmythos der USA sind. Ja, aber ... Dieses Aber steht dafür, daß es trotzdem passieren kann (und es passiert gerade wieder), daß sich freie Gesellschaften freiwillig eine Gewichtsweste umhängen: Sie fühlt sich an nach Tabu, Sanktion, Schikane, verengtem Diskursraum: Demokratie mit Aber. Die Gewichtsweste des Antikommunismus trugen in den fünfziger Jahren viele mit sich herum, auch Walt Disney, der in eine unrühmliche Denunziationskampagne verstrickt war. Als überzeugter Republikaner soll Disney die Namen von Mitarbeitern ans FBI gemeldet haben, die sich für die Ideen von Marx und Engels erwärmen konnten.
Wenn man sich den Disney-Konzern heute anschaut, so stellt man eine gewisse Kontinuität des Mit-den-Wölfen-Heulens fest. Manche Firmen haben den Opportunismus einfach in den Genen. Bei der Realverfilmung von „Mulan“ war man sich für eine Botschaft ganz im Sinne der Kommunistischen Partei Chinas nicht zu schade (JF 37/20), weil der Erfolg im Reich der Mitte in der Gesamtkalkulation für das Filmprojekt eine feste Größe war. Bei uns in Europa und in seiner amerikanischen Heimat ist es der hegemoniale Regenbogenkult, dem der Mediengigant keinen Kotau verweigert.
Ob „Pride-Marsch“ im Disneyland Paris 2019, ob Getöse um einen unfreiwilligen Prinzenkuß im neuen „Schneewittchen“-Film („labiale Aneignung“) oder die mustergültig umgesetzte Vielfalts-Agenda in der diesen Mai herausgekommenen Neuverfilmung von „Arielle“, immer ist Disney an vorderster Front mit dabei, wenn von vornherein klar ist, daß man zu den Gewinnern gehören wird.
In der „Schneewittchen“-Realverfilmung – voraussichtlicher Kinostart: März 2024 – wird Rachel Zegler die Hauptrolle spielen. Die dunkelhäutige US-Schauspielerin mit kolumbianischen Wurzeln feierte ihr Leinwanddebüt 2021 in Steven Spielbergs Filmadaption des Musicals „West Side Story“ (JF 50/21). Der eigentliche Clou aber ist: Diese neue Version wird ohne den Prinzen, der Schneewittchen wachküßt, auskommen – und vor allem auch ohne Zwerge. Die sollen durch „magische Kreaturen“ ersetzt werden. Disney selbst verlautbarte dazu bislang nur vieldeutig: „Wir verfolgen bei diesen sieben Figuren (den sieben Zwergen aus dem Originalfilm) einen anderen Ansatz …“ Über die Änderungen der Geschichte informiert fortlaufend die für gewöhnlich gut unterrichtete Netzseite https://thedisinsider.com.
Zum Problem der labialen Aneignung gibt es auch bereits eine fachwissenschaftliche Expertinneneinschätzung. Laut dem Schweizer Nachrichtenportal watson.ch meinte die japanische Professorin für historische Soziologie und Geschlechtertheorie an der Osaka University, Kazue Muta, zu dem problematisierten Prinzenkuß: „Wenn man rational über Schneewittchen nachdenkt, die als Prinzessin durch den Kuß eines Prinzen aufgeweckt wird, beschreibt die Geschichte einen sexuellen Übergriff auf eine bewußtlose Person.“
Gewiß, beim Publikum anzukommen ist für alle gewinnorientierten Unternehmen essentiell und lebenswichtig. Aber rechtfertigt das die eunuchenhafte Füßeküssermentalität, die von weiten Teilen der US-Filmindustrie Besitz ergriffen hat? Es scheint kein Stöckchen mehr zu geben, das zu morsch wäre, als daß selbst das mächtigste Studio nicht trotzdem in vorauseilendem Kadavergehorsam darüber spränge, wenn es ihm die Klonkrieger einer gut bewaffneten Armee von Meinungsimperialisten hinhalten. Verläßlichster Vorreiter: Disney.
Anfang 2021 wurde bekannt, daß Klassiker wie „Dumbo“, „Peter Pan“, „Aristocats“ und „Das Dschungelbuch“ aus dem Kinderprogramm des Streamingdienstes Disney+ geflogen sind. Grund: stereotypogene Darstellungen, die der wahren Beschaffenheit von „Menschen oder Kulturen“ nicht gerecht werden. Noch besser, als einem Trend hinterherzuhecheln, ist es bekanntlich, ihn selbst zu setzen, weil man dann den Opportunismus als Pionierleistung ausgeben kann. Wer seine Fahne nach dem Wind hängt, nachdem er den Wetterbericht gehört hat, macht garantiert alles richtig.
Das absolute Optimum ist es aber, wenn man ein frisch gekürtes Tabu bricht, indem man es umkehrt, und das dann fortschrittlich nennt. Wenn man sich also, wie bei „Arielle, die Meerjungfrau“ die Geschichte eines weißen Märchenerzählers aus Dänemark „kulturell aneignet“ und sie mit Elementen der diversitätsbesessenen Kulturorthodoxie der Gegenwart kolonisiert („Arielle, die Queerjungfrau“), obwohl Aneignung und Kolonisation eigentlich tabu sind. Zeichen der Zeit erkennen, wittern, wohin der Lemminge-Strom einer Gesellschaft unterwegs ist, und dann dorthin den Weg bahnen, das verleiht imperiale Größe! Und so ist aus dem Disney-Imperium, das viele noch heute, aber – falls sie noch Kinogänger sind – wohl immer weniger mit den wunderbaren Geschichten von „Bambi“, „Susi und Strolch“ und dem „Dschungelbuch“ verbinden, ein alberner Wackeldackel geworden. Sie wissen schon: Das sind diese beweglichen Figürchen, die man sich vorn aufs Kfz-Armaturenbrett heftet und die bei jeder Bewegung des Wagens wie irr zu nicken beginnen. Eine hündisch-unterwürfige Cartoon-Figur in Dauerverbeugung: welch ein Nachfolger für Pluto, den eigenwilligen Hund von Goofy und seinem Freund Micky Maus, mit dem 1928 der Aufstieg des Trickfilmimperiums von Walt und Roy O. Disney begann!
Nach der Gründung des Disney Brothers Cartoon Studio in Los Angeles am 16. Oktober 1923 gilt das Jahr des ersten Micky-Maus-Kurzfilms „Plane Crazy“ als wichtiger Meilenstein auf dem Weg der Disney-Brüder in den Film-Olymp. Ein weiterer ist der erste abendfüllende Spielfilm, den die Zeichentrickzauberer zu Weihnachten 1937 mit großem Erfolg in die Lichtspieltheater brachten: „Schneewittchen und die sieben Zwerge“.
Mit Walts frühem Tod 1966 begann eine Zeit der Stagnation. Aus dem Dornröschenschlaf erwachte der große, die Massen bewegende Disney-Zeichentrickfilm Ende der Achtziger. Mit Anleihen bei der Filmgattung Musical fanden Roy Disney und Jeffrey Katzenberg, der den Konzern später wegen kreativer Differenzen verließ und als Regisseur von „Shrek“ (2001) eine deftige Disney-Parodie ablieferte, 1989 zurück in die Erfolgsspur: „Arielle, die Meerjungfrau“, jener Zeichentrickfilm, dessen Neuaufguß vor wenigen Monaten in die Kinos kam und wegen seiner politischen Überkorrektheit für Stirnrunzeln sorgte, wurde ein Publikumsmagnet.
Entspannteren Geistern entlocken die im rechten Lager gern zu Skandalmeldungen aufgeblasenen Nachrichten über eine farbige „Arielle“, über „Triggerwarnungen“ beim Streaming-Angebot alter Filme des Studios auf Disney+ oder jetzt über den von „Game of Thrones“-Heros Peter Dinklage angeführten Zwergenaufstand der Kleinwüchsigen gegen ihre eigene Stereotypisierung bei der Realverfilmung von „Schneewittchen“ nur noch ein müdes Lächeln. Wissen sie doch: Am Ende dient auch der Skandal der Vermarktung des neuen Produkts.
Und wer zum zehnten Mal „König der Löwen“ (1994) schaut, den erfolgreichsten Zeichentrickfilm aller Zeiten, soll der sich über den garstigen Scar, Simbas intriganten Macbeth-Onkel, immer noch ärgern, obwohl er weiß, daß das Todesurteil über ihn bereits gesprochen ist? Ist nicht auch der aktuelle Regenbogen-Kult, der die Geisteskrankheit ist, für deren Therapie sie sich hält, wie einst Karl Kraus über die Psychoanalyse urteilte, eine spirituelle Totgeburt, die jetzt schon angefangen hat zu faulen und zu stinken? Merkt man es vielleicht nur nicht, solange die, die das Sagen und genug Geld haben, um damit um sich zu werfen, alles in die Waberwölkchen ihrer künstlichen Puder, Parfüms und Eaux de Cologne hüllen wie die satten, selbstgefälligen Aristokraten am Vorabend der Französischen Revolution?
Allemal dürfte damit der Hauptzweck des marketingdienlichen Tamtams rund um den Jubeltag der Walt Disney Company bildhaft umschrieben sein. „Ein globales Fest der Kreativität anläßlich des 100jährigen Bestehens der legendären Disney-Geschichten“ verspricht die deutsche Werbeagentur des Weltkonzerns. Medienwirksam inszeniert, startete am Donnerstag dieser Woche (12. Oktober) unter dem Schlagwort Create 100 eine große Internet-Auktion, für die außer Disney (samt den Studiotöchtern Marvel und Pixar) Modefirmen wie Adidas, Maison Valentino, Pandora und Tommy Hilfiger Gegenstände gestiftet haben. Die Auktion läuft bis zum 30. Oktober 2023 in 18 Ländern der Welt. Als begehrteste Ersteigerungsobjekte gelten der Katzenanzug, den die schwarze Sängerin Beyoncé im Film „Black Is King“ (2020) trug, sowie eine Kopie des Glaspantoffels aus „Cinderella“, entworfen von Giovanna Engelbert.
Alles dient natürlich – wie könnte es anders sein – nicht dem Renommee von Disney, sondern einem guten Zweck: Der Erlös der Auktion (eine Million Dollar sind schon jetzt fest zugesagt) geht an „Make-A-Wish“, das US-Pendant zum Preis für „Wetten dass ...?“-Kinderwettsieger.
Der Konzern kann sich Großzügigkeit leisten, denn die Rechnung geht auf. Die New-Age-Parabel „Avatar – The Way of Water“, produziert von den 2019 übernommenen 20th Century Studios, war der große Renner des letzten Winters. Aktuell soll der Science-fiction-Film „The Creator“ den Erfolg wiederholen. Er propagiert den Paradigmenwechsel der Regenbogenfraktion besonders penetrant. Die Symbiose aus fernöstlich-synthetischem und westlich-analytischem Denken, die Implantation hinduistischer Begrifflichkeiten wie „Maya“ (Sanskrit für „Schein“) und „Nirmata“ (Sanskrit für „Schöpfer“), die transhumanistische Vorstellung eines globalen Gehirns auf der Grundlage technologischen Fortschritts und moderner Netzwerke, die Proklamation eines KI-Weltenlehrers: das alles mutet an wie die minutiöse Abarbeitung der Agenda postmoderner Transformationsgurus aus den Kindertagen der Grünen, die auch jenseits des großen Teichs als Vorbild gesehen wurden.
Wie zerstörerisch sich die antibürgerliche Agenda der „Woken“ tatsächlich auf Gesellschaften, insbesondere auf die Jugend auswirkt und daß eine zerstörte Jugend zwangsläufig in eine dysfunktionale Gesellschaft mündet, für solche kritischen Einwände ist in den überwältigenden visionären Zukunftsgemälden aus dem Hause Disney natürlich kein Platz. Zu sehr sind die Anhänger der Regenbogenreligion gedanklich gekettet an die Utopie einer qua Transformation universell befriedeten und mit sich selbst versöhnten Welt, einer Welt ohne jeglichen Antagonismus. Und so läßt man also zum großen Betriebsfest sich und die zeitgeistigen Ideale hochleben, die zugleich die Profite sichern. Der Tanz ums goldene Kalb des neuen Kults, den Disney diversitätsselig mitfeiert, wird also anhalten, während die wirklich Erwachten längst die Mischung aus Schwefel- und Verwesungsgeruch in dem wahrnehmen, was seine Hohenpriester für Weihrauch halten.