© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/23 / 13. Oktober 2023

Brüsseler Gelder für sächsische Wälder
Das EU-Programm TSI: Mit fast 900 Millionen Euro will die Europäische Kommission strukturschwache Regionen unterstützen. Die Themen reichen von Naturkatastrophen über Geburtenraten und Digitalisierung. Mehrere östliche Bundesländer sollen profitieren
Paul Leonhard

Seit internationale Konzerne Dresden – dank Milliardenzahlungen der Steuerzahler – als Standort für die Halbleiterproduktion entdeckt haben, hat die sächsische Landeshauptstadt zwei Probleme: Ihr geht das Wasser aus und es finden sich nicht ausreichend Fachkräfte für die neu entstandenen Jobs. Das erste Problem soll mit einer 320-Millionen-Euro-Investition gelöst werden, mit der die Versorgung der Industrie von der Trinkwasserversorgung der Bevölkerung entkoppelt wird. Bezahlen wird das natürlich die Kommune. Beim zweiten Problem könnte die EU helfen, denn aus deren Sicht ist Dresden eine Stadt, die es vor dem Aussterben zu bewahren gilt.

Die EU-Kommission befürchtet Wohlstandsverluste

Die EU-Kommission glaubt erkannt zu haben, daß die Industrie- und Kulturstadt unter einer alternden Bevölkerung, sinkenden Geburtenraten und einer großflächigen Abwanderung junger, qualifizierter Arbeitskräfte leide. Die Diagnose: Dresden befinde sich auf einem Niveau wie beispielsweise Südwestrumänien, Észak-Magyarország in Ungarn oder das französische Überseedépartement Martinique. Benachteiligten Regionen wollen die EU-Bürokraten mit eigens entwickelten „Mechanismen zur Talenteförderung“ helfen.

Gemeint ist das „Europäische Instrument für technische Unterstützung“ (Technical Support Instrument – TSI). Das Programm unterstützt nationale Behörden bei der Umsetzung von institutionellen, administrativen und strukturellen Reformen. Konkret bedeutet das beispielsweise Strategie und Rechtsberatung, Studien, Schulungen, Datenerhebungen oder Expertenbesuche vor Ort bei der Umsetzung von Reformen.

Derartige Reformen haben insgesamt 82 Regionen in 16 Mitgliedstaaten mit knapp 30 Prozent der EU-Bevölkerung laut Kommission dringend nötig, weil die Bevölkerung im erwerbsfähigen 

Alter schwindet, der Anteil an Hochschul­absolventen immer geringer wird oder immer mehr Menschen zwischen 15 und 39 Jahren abwandern.

Warum das so ist, hat Brüssel bereits analysiert: ineffiziente Arbeitsmärkte und ineffiziente Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung und der Erwachsenenbildung. Außerdem werden den betroffenen Regionen Defizite in den Bereichen Innovation, öffentliche Verwaltung oder Unternehmensentwicklung sowie ein geringes Dienstleistungsangebot bescheinigt.

Insgesamt 46 der 82 betroffenen Regionen will die EU aus der „Talententwicklungsfalle“ helfen. Neben den beiden sächsischen Städten Chemnitz und Dresden sind das in Deutschland auch ganze Bundesländer. Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Dazu kommen weitere  Regionen aus der früheren sozialistischen Staatengemeinschaft wie Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Tschechien, Polen, Kroatien, aber auch Gebiete in Frankreich wie Lothringen. In Italien kranken laut Brüssel Sizilien, Sardinien, Piemont und Umbrien, in Griechenland der Peloponnes.

In einigen dieser Regionen gebe es bereits eine Blockade bei der Talententwicklung, andere stünden kurz davor. „Ohne Gegenmaßnahmen wird dieses Problem den langfristigen Wohlstand in der EU gefährden“, prognostiziert die Pressestelle der Europäischen Kommission. Ließen sich die auserwählten Oberbürgermeister, Landräte und Provinzgouverneure für die Ideen aus Brüssel erwärmen, werde es vor Ort zu einem „nachhaltigen und inklusiven Wirtschaftswachstum“ kommen, sind sich die Verantwortlichen sicher. Überdies sei das TSI eine wertvolle Ergänzung der bestehenden europäischen Struktur- und Investitionsfonds.

Ein paar positive Beispiele aus dem Vorgängerprogramm listet die EU-Kommission für Deutschland auf. So erhält Sachsen im laufenden Jahr 2023 eine TSI-Förderung für Aktivitäten zur Prävention und Bekämpfung von Waldbränden. Der Freistaat soll hierfür vor allem mit tschechischen Behörden an gemeinsamen Lösungen arbeiten. Brandenburg erhielt technische Unterstützung bei der Erarbeitung eines neuen Hochschulentwicklungsplans zur Deckung des Fachkräftebedarfs sowie bei der Klärung beihilferechtlicher Fragen im Rahmen der wissenschaftlichen Weiterbildung (­Ausschreibungsrunde SRSP-2020).

Für das aktuelle Förderprogramm müssen die jeweiligen Verwaltungen bis spätestens 20. Oktober entsprechende Interessenbekundungen einreichen. Abgefragt werden unter anderem der Grad der Autonomie, der Grad der finanziellen Unabhängigkeit und die Bereiche, die in die Zuständigkeit der Regionalbehörde fallen. Die Herausforderungen bei der Verkehrsinfrastruktur, den Gesundheitsdienstleistungen, dem Bildungssystem, den Freizeit- und Kultureinrichtungen, die übermäßige Abhängigkeit der Wirtschaft von verschiedenen Industriesektoren, Jugendarbeitslosigkeit, Zusammenarbeit mit Wissenschaft und NGOs sind dabei auf einer Skala von 1 bis 10 einzuschätzen.

Dann wird geprüft, ob die entwickelten „Mechanismen zur Talentförderung zu den Vorstellungen und Ideen der Regionen passen. So will die Kommission noch in diesem Jahr geeignete Projekte ermitteln, mit denen Fachkräfte ausgebildet, angeworben und gebunden werden können. Aus Brüssel heißt es dazu: „Durch die 

kohäsionspolitischen Programme und interregionale Innovationsinvestitionen werden Innovationen und die Schaffung hoch qualifizierter Arbeitsplätze gefördert und damit die Chancen verbessert, Talente in den entsprechenden Regionen zu binden und zu gewinnen.“ Die Regionen seien angehalten, thematische und regionale Arbeitsgruppen zu spezifischen beruflichen oder territorialen Herausforderungen einzurichten.

Und als letzter Punkt sollen die analytischen Kenntnisse zur „Unterstützung und Umsetzung evidenzbasierter Maßnahmen in den Bereichen Regionalentwicklung und Migration“ weiterentwickelt werden sowie „vielversprechende Unternehmen“ mit Hilfe vorhandener EU-Instrumente und EU-Maßnahmen unterstützt werden. Dazu zählt unter anderem die in der neuen Europäischen Innovationsagenda enthaltene Initiative „Talente im Bereich technologieintensive Innovation“, einer Vorzeigeinitiative zur Bewältigung des Fachkräftemangels in Deep-Tech-Branchen, die alle Regionen in ­Europa umfaßt.

So gab es 2021 das „Grünbuch zum Thema 

Altern“ und die „Langfristige Vision für die ländlichen Gebiete der EU bis 2040“. Es folgte eine Europäische Strategie für Pflege und Betreuung mit Empfehlungen über den Zugang zu bezahlbarer und hochwertiger Langzeitpflege und zur frühkindlichen Betreuung.

Ein wildes Dickicht aus Experten und Anträgen

Dazu kommt die „Umfassende Strategie“ der EU für die Rechte der Kinder und die „Europäische Garantie“ für Kinder, das Paket zur Förderung der Jugendbeschäftigung, die Empfehlung zu einer wirksamen, aktiven Beschäftigungsförderung, zur Sicherstellung eines gerechten Übergangs zur Klimaneutralität, das Paket zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Menschen mit Behinderungen, der Vorschlag für das Europäische Jahr der Kompetenzen 2023 sowie die Talententwicklung in den Regionen Europas.

Nicolas Schmit, Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, sagt dazu: „Dies ist eine gute Gelegenheit für Regionen, die Schwierigkeiten bei der Gewinnung und Bindung von Fachkräften haben, zu ermitteln, was Unternehmen und Erwerbstätige davon abhält, sich auf produktivere und zukunftsfähigere Branchen auszurichten.“

Insgesamt stellt die EU für das TSI im Zeitraum 2021 bis 2027 mehr als 864 Millionen Euro bereit. Eine Kofinanzierung seitens der Mitgliedsstaaten ist nicht erforderlich, allerdings werden auch keine direkten Zahlungen an die Antragsteller geleistet, „denn grundsätzlich geht es nicht um Projektförderung, sondern vielmehr um Unterstützungsleistungen bei der Umsetzung von Reformprojekten“. Der Verdacht liegt nah, daß es sich um ein Beschäftigungs­programm für die EU-Bürokratie handelt.

Nach Genehmigung eines TSI-Antrags entscheidet die Europäische Kommission in Absprache mit der beantragenden Behörde über den jeweils passendsten Partner. Die Höhe der Ressourcen wird nach Angaben der EU voraussichtlich im Bereich von 55 Expertentagen pro Region liegen. Unklar ist, welchen Stundenlohn die Experten dafür einfordern.