© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/23 / 13. Oktober 2023

Drohen 50 Jahre nach Beginn der ersten Ölkrise neue Preiskapriolen?
Keine Trendwende
Thomas Kirchner

Der Ölpreis bereitet Experten wie Laien Kopfzerbrechen. Nach einem Anstieg von 71 Dollar pro Barrel (Sorte Brent) Mitte Juni auf fast 95 Dollar Ende September ging es zum Oktoberbeginn abwärts. 84 Dollar kostete Brent am Freitag vor den Hamas-Angriffen auf Israel. Zu Wochenanfang waren es nur vier Dollar mehr. Erklärungen reichen von Rezessionsängsten über Nachfrageschwäche bis zum Ablauf von Ölfutures. Keine davon ist überzeugend. Die globale Nachfrage bleibt auf Rekordniveau, Rezessionssorgen gibt es seit Jahresanfang und Futures-Kontrakte laufen monatlich ab.

Wahrscheinlich ist der Preissturz eine technische Gegenreaktion auf den schnellen Anstieg ab Juni. Spekulanten wetteten auf fallende Ölpreise, während Verbraucher mit dem Einkauf warteten. Nach den Förderkürzungen Rußlands und Saudi-Arabiens deckten Leerverkäufer ihre Positionen ein, Verbraucher kauften in Panik, und Lagerbestände wurden in China aufgefüllt. Diese temporär hohe Nachfrage ließ den Ölpreis hochschnellen. Seitdem sind die Lager voll, und die Nachfrage hat sich wieder entspannt, während gleichzeitig Lagerbestände in den USA abgebaut wurden. Öl hat deshalb einen Teil des Anstiegs wieder aufgegeben. Auch das rasante Tempo des Anstiegs ab Juni barg die Gefahr, daß die Nachfrage sinken könnte, zumal der höhere Dollar die Kosten nochmal erhöht.

Während des Preisanstiegs hatten Analysten Ziele von 100 bis 110 Dollar ausgegeben. Das ist üblich: Solange der Ölpreis steigt, geben sie fünf bis zehn Dollar höhere Preisziele aus. Sinkt der Ölpreis, sind die Preisvorhersagen immer etwas unter dem aktuellen Kurs. Damit liegen sie meistens richtig, denn wie andere Rohstoffe auch folgt Öl starken Preistrends. Die Schwierigkeit liegt nicht im Erkennen des Trends, sondern die Trendwende vorherzusagen.

Eine solche könnte die Eskalation in Gaza sein. Gewalt im Nahen Osten führt zu einem Anstieg des Ölpreises. Der Extremfall war der am 6. Oktober 1973 begonnene Jom-Kippur-Krieg, als Ägypten und Syrien Israel überfielen, und die am 16. Oktober von den Emiraten, Iran, Irak, Katar, Kuwait und Saudi-Arabien gestartete Preiserhöhung und Förderkürzung. Heute fehlt nicht nur der politische Wille zu einem Embargo, auch die Möglichkeiten. Die USA sind durch das Fracking Selbstversorger, China und Indien verbrauchen in etwa soviel wie der Rest des Westens, das Ölkartell OPEC hat nicht mehr die gleiche Marktdominanz. Eine Vervierfachung des Ölpreises wie 1973 ist deshalb unwahrscheinlich. Trotzdem können Lieferengpässe entstehen, falls Iran durch seine jemenitischen Verbündeten wie 2019 die Hälfte der saudischen Produktion lahmlegt oder die Sanktionen gegen iranische Ölexporte durchgesetzt werden. Nach dem Angriff auf zwei Saudi-Aramco-Ölanlagen am 14. September 2019 stieg der Ölpreis zunächst um mehr als zehn Prozent, lag aber zwei Wochen später wieder auf dem Niveau von zuvor, weil die Exporte nur kurzzeitig unterbrochen waren.

Grundsätzlich bleibt die Nachfrage nach Öl weltweit robust und wird mit wachsendem Wohlstand in Schwellenländern neue Rekorde erreichen. Deshalb wird auch das verpönte Fracking weiterhin zur Ölförderung beitragen. ExxonMobil soll derzeit den Kauf des Fracking-Spezialisten Pioneer Natural Resources für 60 Milliarden Dollar erwägen. Damit würde der US-Konzern seinen Status als größter westlicher Ölkonzern mit dann 3,7 Prozent der weltweiten Ölförderung weiter ausbauen.